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Russische Reality-TV-Formate als Propagandawerkzeug


In diesem Artikel werden pro-Kreml-Medien wie Lenta.ru zitiert. Diese Quellen sind nicht glaubwürdig und werden hier nur erwähnt, da sie oft die einzigen öffentlich zugänglichen Informationen über russische Reality-TV-Persönlichkeiten bereitstellen. Die Redaktion dieses Newsletters distanziert sich ausdrücklich von Tonfall und Inhalt der verlinkten Artikel.


Dass zentrale russische Medienformate der politischen Propaganda dienen, ist nichts Neues. Namen wie Wladimir Solowjow oder Margarita Simonjan sind fest mit dem Staatsfernsehen und dem Versuch verbunden, ein geschlossenes ideologisches Weltbild zu vermitteln. Während klassische Nachrichtensendungen oder Talkshows bereits seit Jahren als offensichtliche Plattformen für kriegsbefürwortende Rhetorik fungieren, hat sich in den letzten Jahren ein neues Feld geöffnet: das Unterhaltungsfernsehen, genauer gesagt das Reality-TV. In subtileren, emotionalisierten Formaten wird hier eine Erzählung produziert, die Krieg verherrlicht, staatliche Entscheidungen legitimiert und insbesondere die Idee traditioneller Familienwerte als moralisches Rückgrat der Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt.


Soft Power, Hard Messages: Propaganda durch Reality-TV


Ein Beispiel dafür ist das Show „Dom-2” („Haus-2”), eine der langlebigsten und populärsten Reality-TV-Shows in Russland. Seit 2004 läuft die Sendung mit dem einfachen Konzept, dass die TeilnehmerInnen gemeinsam in einem Haus wohnen und dabei nach einem Beziehungspartner oder einer Beziehungspartnerin suchen. Das Format selbst thematisiert den Krieg nicht offen. Dennoch ist es kein unpolitischer Raum. Ehemalige Teilnehmende, von denen viele eine anhaltende mediale Präsenz haben, positionieren sich öffentlich zum Krieg in der Ukraine im Sinne der staatlichen Linie. Alexander Zadoynov etwa, der seit 2007 wiederkehrend in der Sendung zu sehen war, verkündete im Dezember 2023 in seinen sozialen Netzwerken, dass er sich freiwillig zur Front begebe, um „den Weg der Großväter und Urgroßväter fortzusetzen“ und „gegen allerlei böse Geister zu kämpfen“. Diese Wortwahl ist kein Zufall, sondern reiht sich in eine nationalistische Kriegsnarration ein, die den Angriffskrieg als Fortsetzung eines historischen Verteidigungskampfes mythologisiert.

Während Zadoynov als Einzelperson agiert, gehen andere Formate deutlich weiter: Die Heirats-Show „Davay Pozhenimsya“ („Lass uns heiraten“) ist beispielsweise seit 2008 auf Sendung. Im Jahr 2023 kündigte die prominente Kupplerin der Show, Roza Syabitova, eine Spezialfolge mit Teilnehmenden der sogenannten „Spezialoperation“ an. Ziel sei es, so Syabitova, dem Publikum „positive Emotionen” zu vermitteln. In ihrer Sprache wurde deutlich, wie eng Emotionalisierung und Kriegsverklärung inzwischen verbunden sind. Man wolle eine „starke, coole, großartige Sendung“ machen, die nicht nur die ZuschauerInnen, sondern auch das Team selbst zu Tränen rühre. Zu erwünschen im Show seien mehr heldenhafte Kämpfer, die die Heimat verteidigen.

In einer Spezialfolge, die am 9. Mai 2024 zum Tag des Sieges ausgestrahlt wurde, stand der Freiwillige Danil Malinsky im Mittelpunkt. Er wurde als freundlicher und hilfsbereiter Bürger dargestellt, der sich der Front angeschlossen hat, um russische Spezialeinheiten mit humanitärer Hilfe zu versorgen. Seine Organisation trägt den Namen „Volks-Erste-Hilfe-Kasten“ - ein bewusst harmlos klingender Titel, der das Engagement als uneigennützige Zivilinitiative erscheinen lassen soll. Tatsächlich wurde Malinsky öffentlich von Wladislaw Dawankow, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Staatsduma, gelobt, was nahelegt, dass seine Inszenierung in der Show keineswegs zufällig war. Im Finale der Folge bereitet die Auserwählte des Freiwilligen symbolträchtige „Kriegsgerichte” zu, die gemeinsam gegessen werden - ein inszenierter Akt häuslicher Normalität im Schatten eines brutalen Angriffskrieges.


Diese Formate funktionieren über das Persönliche. Die ZuschauerInnen begegnen hier vermeintlich gewöhnlichen Menschen, die entweder an der Front kämpfen oder sich, wie im Fall Malinsky, der militärischen Unterstützung verschreiben. Die Dramaturgie emotionalisiert und bändigt Pathos und Patriotismus in Ehewünsche, romantische Gesten und familiäre Szenarien. Das politische Ziel liegt jedoch offen zutage: Der Krieg wird normalisiert und die Familie als Gegenmodell zum Westen ideologisiert.

Diese Tendenz steht jedoch nicht für sich allein. Sie ist Teil einer breiteren Strategie der russischen Regierung, mit Hilfe verschiedener gesellschaftlicher Sektoren: Medien, Bildung und Sozialpolitik ein ideologisches Klima zu schaffen, das nationale Stärke, weibliche Gebärfähigkeit und patriarchale Strukturen in den Mittelpunkt rückt. Besonders deutlich wird das im Kontext des demografischen Problems. Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die russische Bevölkerung deutlich geschrumpft, durch Abwanderung junger Männer, einen rapiden Anstieg der Sterberaten und einen Rückgang der Geburten.

Die Regierung setzt auf Moralappelle, wirtschaftliche Anreize für frühe Mutterschaft sowie mediale Kampagnen gegen kinderfreie Lebensentwürfe. So wurde in mehreren Regionen ein neues Schulfach mit dem Titel „Grundlagen der Familienkultur“ eingeführt, das Ehe, Mutterschaft, Reproduktion und Rollenverteilung behandelt, allerdings strikt entlang heteronormativer Linien. Sexualaufklärung, Verhütung oder alternative Familienmodelle werden nicht thematisiert. Im Zentrum steht die Vorstellung, dass eine Frau in erster Linie Mutter und Ehefrau zu sein habe und der Mann als Versorger und Verteidiger fungiere.

Diese Botschaften setzen sich auch im Reality-TV fort. Ein weiteres Beispiel für das Ineinandergreifen von Unterhaltung, Moralismus und staatlich gewünschtem Verhalten ist die Sendung „Mama v 16“ („Mutter mit 16”; früher: „Schwanger mit 16“). Das Format zeigt minderjährige Mütter, oft mit schwierigen familiären Hintergründen, die sich durch das Leben kämpfen, jedoch stets mit dem Subtext, dass frühe Mutterschaft erstrebenswert sei. Seit 2023 wird die Sendung gezielt umgestaltet. Anstatt die Herausforderungen zu beleuchten, wird Mutterschaft nun als heroischer Akt inszeniert, um junge Zuschauerinnen zur frühen Familiengründung zu „motivieren“. Mediale Repräsentationen wie diese werden von einem staatlichen Diskurs gestützt, in dem Mutterschaft als patriotische Pflicht dargestellt wird.

Gleichzeitig wird ein kinderfreies Leben zunehmend delegitimiert. So wurde Ende 2024 ein Gesetzesentwurf zur Bestrafung sogenannter „Childfree-Propaganda“ eingebracht, der empfindliche Geldstrafen vorsieht. Der Begriff selbst bleibt diffus und kann faktisch alles umfassen. In mehreren Regionen wurden zudem Maßnahmen eingeführt, die Abtreibungen erschweren, etwa durch verpflichtende psychologische Beratungen oder lange Wartezeiten. In Kombination mit finanziellen Anreizen, wie etwa Einmalzahlungen von umgerechnet 1.000 Euro für schwangere Minderjährige, ergibt sich ein klar erkennbares Ziel: Frauen sollen früh, häufig und möglichst ohne Widerspruch Kinder bekommen.


Der Marburger Medienwissenschaftler Prof. Dr. Andreas Dörner hat herausgearbeitet, wie politische Inhalte auch in Unterhaltungsformaten, wie Kinofilmen oder TV-Serien, transportiert werden und hat entsprechend den Begriff des “Politainment” geprägt. Diesbezüglich postuliert er: “Der erzählende bzw. dramatische Modus der Konstruktion von Wirklichkeit, der auf der Grundlage einer narrativen Spielhandlung eine Als-ob-Welt gestaltet, wird schon lange Zeit als Möglichkeit politischer Erfahrung gepflegt” (Dörner, 2000:162).

Die Bedeutung audiovisueller Informationsvermittlung durch politische AkteurInnen beschreibt auch Linda Hentschel folgendermaßen: “Von Bildern als Regierungstechnologien zu sprechen, heißt zu fragen, wie Dinge repräsentiert werden, damit sie einem Bewältigungs- und Sicherheitsphantasma dienen können” (Hentschel, 2008:13).

Die dargestellten Reality-TV-Formate sind aber nicht nur eine Ablenkung vom Alltag, sondern tief verankerte Instrumente eines umfassenden ideologischen Projekts. Sie emotionalisieren, verharmlosen und normalisieren eine politische Agenda, die Gewalt, Patriarchat und Kontrolle über individuelle Lebensentwürfe zum Ziel hat. So wird Krieg zur Kulisse für romantische Begegnungen, junge Mütter zur patriotischen Idealfigur stilisiert und weibliche Selbstbestimmung durch narrative Wiederholung schrittweise ausgehöhlt.

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