“Pop-Faschismus” - Spanien im Netz des Revisionismus: Digitale Desinformation und autoritäre Geschichtsnarrative im europäischen Vergleich
- markuswatzl
- 6. Nov.
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Aktualisiert: 14. Nov.

Das Zitat „No creemos en el gobierno a través de las urnas. […] España no tiene sueños imposibles“, das Gen. Francisco Franco zugeschrieben wird, fasst paradigmatisch die Ablehnung demokratischer Legitimation und pluralistischer Partizipation zusammen, die den autoritären Charakter seines Regimes prägte. Franco, der nach seinem Sieg im Spanischen Bürgerkrieg 1939 bis zu seinem Tod 1975 herrschte, hinterließ ein Erbe politischer Repression, gesellschaftlicher Fragmentierung und ideologischer Polarisierung, dessen Nachwirkungen bis heute in der spanischen Öffentlichkeit spürbar sind. In Kunst, Literatur und Film – etwa in Picassos Guernica, Hemingways For Whom the Bell Tolls oder Curtiz’ Casablanca – manifestiert sich der Bürgerkrieg als kulturelles Trauma einer Nation, deren Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit bis in die Gegenwart hineinwirkt. Während linke Parteien die Aufarbeitung der Franco-Diktatur und die Erinnerung an die Opfer betonen, fordern konservative Kräfte eher, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Durch Gesetze zum historischen Gedächtnis versucht der Staat, Gerechtigkeit zu schaffen, Massengräber zu öffnen und franquistische Symbole zu entfernen – was jedoch weiterhin zu heftigen Diskussionen führt. In vielen Städten finden sich noch Spuren der Diktatur, und viele Familien beschäftigen sich erst seit kurzem offen mit ihrem eigenen Schicksal in jener Zeit. So bleibt der Bürgerkrieg ein Thema, das die spanische Gesellschaft bis heute prägt – zwischen dem Wunsch nach Erinnerung und dem Bedürfnis nach Vergessen. Bereits 2013 postuliert Prof. Georg Pichler diesbezüglich: „Die Krux mit der Vergangenheit ist, dass sie zwar vergangen ist und doch nicht vergehen will. Auf der einen Seite wirkt sie in die Gegenwart herein, auf der anderen ist sie von dieser Gegenwart durchsetzt, von der aus die vergangenen Geschehnisse immer wieder neu gedeutet werden“ und betrachtet gar die sog. „Transición“, also den Übergang zur Demokratie 1975, als gescheitert.
Revisionistische Narrative im digitalen Raum
Diese Spannung zwischen Erinnerung und Vergessen, zwischen moralischer Verantwortung und politischer Zweckmäßigkeit bildet den Hintergrund für ein neues, digitales Feld der Erinnerungspolitik, in dem Desinformation und digitale Mythenbildung zentrale Rollen einnehmen.
Recherchen von Maldita.es und Facta (2025) verdeutlichen, dass Aussagen wie „Unter Franco lebten wir besser“ oder „Als Mussolini da war, war alles besser“ zu den meistverbreiteten revisionistischen Topoi im digitalen Diskurs gehören. Diese Narrative beruhen auf systematischer Desinformation, die historische Komplexität reduziert, selektiv Fakten entstellt und emotionale Appelle in den Vordergrund rückt. Autoritäre Systeme werden darin als Zeiten von Stabilität, Ordnung und Wohlstand verklärt, während demokratische Regierungen als schwach, korrupt oder ineffizient abgewertet werden.
Die damit verbundene Gefahr besteht nicht allein in der Verfälschung historischer Tatsachen, sondern in der Transformation der öffentlichen Kommunikation, wie sie Jürgen Habermas in seiner Theorie der Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) beschrieben hat. Die digitale Öffentlichkeit löst die bürgerlich-deliberative Öffentlichkeit, die auf argumentativer Vernunft basierte, zunehmend durch eine algorithmisch gesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie ab. Während Habermas die Öffentlichkeit als „Raum vernünftiger, herrschaftsfreier Kommunikation“ verstand, in dem Meinungs- und Willensbildung durch rationale Diskurse erfolgen sollte, wird dieser Raum heute von emotionalisierten, verkürzten und interessengeleiteten Kommunikationsformen kolonisiert.
In diesem Sinne lässt sich die digitale Sphäre als Ausdruck einer „kolonialisierten Öffentlichkeit“ begreifen, in der ökonomische und politische Machtinteressen die Kommunikationsprozesse bestimmen. Plattformen wie TikTok, YouTube oder Telegram erzeugen durch algorithmische Verstärkung eine Filterlogik, die Desinformation belohnt, weil affektive und polarisierende Inhalte höhere Reichweiten generieren. Damit wird die kommunikative Vernunft, die Habermas als Grundlage demokratischer Öffentlichkeit begreift, durch die Systemlogik der Sichtbarkeit ersetzt.
HistorikerInnen wie Matilde Eiroa (Universidad Carlos III de Madrid) weisen darauf hin, dass diese digitalen Narrative nicht zufällig entstehen, sondern gezielt emotionalisiert werden, um Identifikation zu erzeugen und kollektive Nostalgie zu politisieren. Desinformation fungiert hier als strategisches Instrument, das affektive Bindungen herstellt und historische Deutungshoheit verschiebt. Durch Wiederholung und ästhetische Rahmung – etwa durch heroische Musik, visuelle Symbolik oder memeartige Vereinfachungen – wird eine Form „emotionaler Plausibilität“ erzeugt, die historische Evidenz ersetzt.
Ihr Kollege Carlos Barciela etwa betont, dass viele vermeintliche „Errungenschaften“ der Franco-Diktatur – etwa der Wohnungsbau oder die Einführung sozialpolitischer Maßnahmen – auf propagandistischen Verzerrungen beruhen. In der digitalen Reproduktion dieser Mythen kehren die Muster der franquistischen Propaganda wieder: die Inszenierung des Diktators als „moralische Autorität“ und „Schutzherr der Nation“. Durch soziale Medien werden diese Narrative nicht nur tradiert, sondern rekontextualisiert, wodurch sie für eine neue Generation anschlussfähig werden.
Digitale Desinformation und die Erosion der deliberativen Öffentlichkeit
Kye Allen, Forscher am Disinformation & Extremism Lab der Universität Oxford, beschreibt diese Dynamik als Wechselwirkung zwischen Normalisierung autoritärer Diskurse und dem Verstärkungseffekt sozialer Medien. Seine Analyse des Vox-Abgeordneten Manuel Mariscal, der 2024 im spanischen Parlament die Nachkriegszeit als “Epoche des Wiederaufbaus und der nationalen Einheit” glorifizierte, illustriert, wie politische Akteure revisionistische Diskurse strategisch nutzen, um Geschichtsdeutung für aktuelle Machtzwecke zu instrumentalisieren.
Diese Prozesse markieren eine tiefgreifende Erosion der deliberativen Öffentlichkeit, in der sich – gemäß Habermas – demokratische Legitimität ursprünglich durch rationalen Diskurs konstituierte. Desinformation verzerrt diesen Prozess, indem sie kollektive Wahrnehmung systematisch beeinflusst, kognitive Dissonanz ausnutzt und Misstrauen gegenüber Institutionen erzeugt. So wird die „Lebenswelt“ (vgl. Habermas) der Bürgerinnen und Bürger zunehmend durch systemisch-mediale Strukturen kolonisiert, die demokratische Rationalität unterminieren und autoritäre Sinnangebote attraktiv erscheinen lassen.
Empirische Befunde belegen diese Entwicklung: Laut dem Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS, 2025) betrachten zwar weiterhin 79 % der Spanierinnen und Spanier die Demokratie als beste Regierungsform, doch der Anteil derjenigen, die ein autoritäres Regime unter bestimmten Umständen akzeptieren würden, stieg von 5,8 % (2007) auf 8,6 % (2025). Unter den 18- bis 24-Jährigen beträgt der Anteil bereits 17,3 %. Eine ähnliche Tendenz zeigt die YouGov-Studie (2025) im Auftrag der TUI-Stiftung, der zufolge nur 56 % der 16- bis 26-Jährigen in sieben europäischen Ländern die Demokratie uneingeschränkt befürworten.
Diese Befunde weisen darauf hin, dass Desinformation nicht nur historische Erinnerung verzerrt, sondern politische Sozialisation beeinflusst. Junge Menschen, deren politische Öffentlichkeit primär digital geprägt ist, entwickeln ihre Einstellungen innerhalb eines Kommunikationsraums, der zunehmend von algorithmisch kuratierten Inhalten dominiert wird. Die Folge ist eine „Fragmentierung der Öffentlichkeit“ (vgl. Habermas), in der rationale Diskurse durch „Teilöffentlichkeiten“ ersetzt werden, die sich gegenseitig kaum noch erreichen.
Diese Form des digitalen Geschichtsrevisionismus bleibt nicht auf Spanien beschränkt. In Italien etwa kursiert regelmäßig die Falschbehauptung, das dreizehnte Monatsgehalt (tredicesima) sei eine sozialpolitische Errungenschaft Mussolinis – obwohl es erst nach dem Ende des Faschismus gesetzlich verankert wurde. Auch im Kontext des Nationalsozialismus lassen sich vergleichbare Desinformationsmuster beobachten: Auf sozialen Plattformen kursieren Inhalte, die Adolf Hitler als „missverstandenen Führer“ darstellen oder seine historische Verantwortung für den Holocaust relativieren. Parallel dazu finden sich offen verherrlichende Narrative, die seine Politik als „Verteidigung Europas“ stilisieren und sie mit gegenwärtigen Konflikten – etwa im Nahen Osten – in Beziehung setzen.
Die transnationale Untersuchung von Maldita.es und Facta (2025), die über 500 digitale Inhalte analysierte, belegt, dass Desinformation über Franco, Mussolini und Hitler nicht zufällig, sondern systematisch organisiert ist. Durch affektive Ästhetik, selektive Faktendarstellung und emotionale Mobilisierung entsteht ein “kommunikativer Resonanzraum”, in dem autoritäre Narrative glaubwürdig erscheinen. Die daraus resultierende „Veralltäglichung“ autoritärer Semantiken gefährdet die Grundlagen demokratischer Öffentlichkeit, indem sie diskursive Rationalität durch emotionale Überzeugungsrhetorik ersetzt.
Im Sinne Habermas’ kann diese Entwicklung als Rückbildung der Öffentlichkeit interpretiert werden – als Prozess, in dem die ursprünglich auf Vernunft, Kritik und Konsens ausgerichtete Kommunikation in eine instrumentelle, von Desinformation durchzogene Form des Austauschs überführt wird. Damit verliert die Öffentlichkeit ihre demokratische Funktion als Ort der Selbstverständigung und verwandelt sich in ein ökonomisch und politisch gesteuertes Kommunikationssystem, das autoritäre Deutungen begünstigt.
Insgesamt verdeutlicht die Analyse, dass die digitale Desinformation über autoritäre Vergangenheiten nicht nur ein epistemisches Problem, sondern eine strukturelle Bedrohung der demokratischen Öffentlichkeit im habermasianischen Sinne darstellt. Sie unterminiert die Bedingungen rationaler Deliberation, schwächt das Vertrauen in wissenschaftliche und journalistische Autoritäten und normalisiert autoritäre Denkformen. Ohne gezielte Gegenstrategien – etwa durch Medienbildung, algorithmische Transparenz und die Reaktivierung deliberativer Kommunikationsräume – droht die Öffentlichkeit, wie Habermas es formulierte, ihren „kommunikativen Vernunftkern“ zu verlieren und sich endgültig in ein Medium systemischer Kontrolle und politischer Manipulation zu verwandeln.
Fazit
Die Analyse zeigt, dass digitale Medien einen maßgeblichen Beitrag zur Verbreitung revisionistischer Geschichtsinterpretationen leisten, die autoritäre Diktaturen wie das Franco-Regime, den italienischen Faschismus oder den Nationalsozialismus idealisieren. In Spanien manifestiert sich dies besonders deutlich: Narrative wie „Unter Franco lebten wir besser“ bedienen sich selektiver Darstellungen, emotionalisierender Argumente und propagandistischer Ästhetik, um die autoritäre Vergangenheit zu verklären und die demokratische Gegenwart zu delegitimieren.
Diese Diskurse operieren nicht isoliert, sondern sind Teil eines transnationalen Musters digitaler Desinformation, das historische Komplexität verzerrt, Tatsachen selektiv darstellt und nostalgische Affekte instrumentalisert. Die Verbreitung solcher Inhalte über soziale Plattformen wie TikTok, Telegram oder YouTube verstärkt die Wirkung der Mythen durch algorithmische Verstärkung und emotionale Resonanzräume. Dies hat zur Folge, dass die traditionelle Öffentlichkeit – verstanden im Sinne Habermas’ als Raum deliberativer, rationaler Auseinandersetzung – fragmentiert und zunehmend durch affektbasierte Kommunikationslogiken ersetzt wird.
Die empirischen Befunde unterstreichen zudem die wachsende Offenheit junger Menschen für autoritäre Modelle, insbesondere in Spanien und Italien, und weisen auf eine gefährliche Erosion demokratischer Einstellungen hin. Die Kombination aus historischer Desinformation, ästhetischer Verklärung autoritärer Führer und digitaler Verstärkung stellt somit eine signifikante Herausforderung für die demokratische Bildung und das politische Bewusstsein dar.
Langfristig erfordert die Gegenwehr gegen diese Prozesse eine vielschichtige Strategie: die Förderung kritischer Medienkompetenz, die Verstärkung der Präsenz professioneller Historikerinnen und Historiker im digitalen Raum, algorithmische Transparenz auf sozialen Plattformen sowie den Ausbau deliberativer Kommunikationsräume, die historische Komplexität und evidenzbasierte Debatten wieder in den Mittelpunkt rücken. Nur so kann die Öffentlichkeit, im Sinne Habermas’, ihre normative Funktion als Ort rationaler Selbstverständigung und demokratischer Willensbildung wieder einnehmen.





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