Der “Midas”-Skandal
- anamariakoridze
- vor 6 Tagen
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Aktualisiert: vor 14 Stunden

In der vergangenen Woche gaben das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) bekannt, dass sie ein weitreichendes Korruptionsnetzwerk im ukrainischen Energiesektor aufgedeckt haben. Die 15 Monate langen Ermittlungen markieren den schwerwiegendsten Korruptionsfall seit Beginn der Präsidentschaft von Wolodymyr Selenskyj. Die Enthüllungen erfolgen zu einem Zeitpunkt, an dem die ukrainische Energieinfrastruktur durch russische Angriffe bereits erheblich geschwächt ist. Stromausfälle prägen den Alltag und Millionen Menschen müssen mit unterbrochener Wärme- und Stromversorgung leben. Vor diesem Hintergrund trifft der Skandal die Bevölkerung besonders hart.
Was ist passiert?
Den Ermittlungsbehörden zufolge besteht der Verdacht, dass ein Netzwerk aus amtierenden und ehemaligen BeamtInnen, Geschäftsleuten sowie hochrangigen politischen EntscheidungsträgerInnen rund 100 Millionen US-Dollar aus dem Energiesektor abgezweigt hat. Verschiedene Medien berichten, dass die Gruppe mutmaßlich 10 bis 15 Prozent von Verträgen mit Energoatom, dem staatlichen Atomkraftbetreiber, abgeschöpft hat.
Die Ermittlungen liefen unter dem internen Namen „Operation Midas“, angelehnt an den mythologischen König Midas, dessen Berührung alles in Gold verwandelte. The Guardian weist darauf hin, dass der Codename auch auf die luxuriöse Inneneinrichtung der Wohnung eines Verdächtigen anspielt, in der sich angeblich eine goldfarbene Toilette befindet.
Wer ist involviert?
Während digitaler Gerichtsanhörungen wurden in den vergangenen Tagen mehrere prominente Namen öffentlich.
Besonders im Fokus steht Timur Minditsch, ein Unternehmer und langjähriger Vertrauter Selenskyjs. Er war Mitgründer von Kwartał 95, jener Produktionsfirma, in der Selenskyj seine Karriere als Medienfigur begann. Laut den Ermittlerinnen gilt Minditsch als mutmaßlicher Organisator des Netzwerks. Kurz bevor ihn BeamtInnen des NABU festnehmen wollten, floh er aus seiner Wohnung in Kiew und soll sich inzwischen in Israel aufhalten.
Herman Haluschtschenko, aktuell im Amt des Justizministers und zuvor im Energieministerium tätige Politiker ist vorläufig von seinen Aufgaben entbunden worden. Ihm wird vorgeworfen, in Minditschs mutmaßliche Geldwaschmechanismen eingebunden gewesen zu sein oder sich zumindest von ihm beeinflussen zu lassen.
Oleksij Tschernyschow, Einst Vizepremier und politisch eng an Selenskyj gebunden, erscheint er in NABU-Materialien unter dem Decknamen „Che Guevara“. Den Behörden zufolge soll er über die fraglichen Kanäle mehr als 1,2 Millionen US-Dollar sowie knapp 100.000 Euro erhalten haben.
Ihor Myronjuk, vormals Berater Haluschtschenkos und stellvertretender Leiter des Staatlichen Immobilienfonds.
Dmytro Basow, früherer Leiter der Sicherheitsabteilung von Energoatom und in den Aufzeichnungen „Tenor“ genannt.
Wie reagiert die Öffentlichkeit?
Die öffentliche Stimmung ist deutlich gereizt. Angesichts der massiven Zerstörungen der Energieinfrastruktur durch russische Angriffe empfinden viele Menschen den Verdacht, dass Spitzenbeamte an Geldern zur Absicherung des Stromnetzes verdient haben könnten, als besondere Zumutung.
Selenskyj reagierte mit scharfer Kritik auf die Enthüllungen, belegte Minditsch mit Sanktionen und entzog ihm die ukrainische Staatsangehörigkeit. Er betonte, dass eine politische Führung im Krieg keine persönlichen Loyalitäten pflegen dürfe. Zugleich forderte er, die Ermittlungen müssten frei von Einflussnahme ablaufen und rechtskräftig überführte Personen müssten konsequent bestraft werden.
Desinformation und geopolitische Erzählungen
Der Skandal geriet schnell in den Fokus russischer Propaganda. In der neuesten Folge seines Podcasts „In Moscow’s Shadows“ analysiert der britische Historiker Mark Galeotti, wie der Kreml den Fall instrumentalisiert. Seiner Einschätzung nach ist die Situation für Moskau ambivalent: Einerseits eignet sie sich, um den westlichen Staaten zu signalisieren, dass die Ukraine unrettbar korrupt sei. Andererseits spiegelt die Affäre Strukturen wider, die auch in Russland selbst tief verankert sind, was offene moralische Angriffe erschwert. Ein allzu offensives Fingerzeigen könnte daher leicht nach hinten losgehen.
Um diese Spannung zu lösen, verlagert die russische Propaganda ihren Fokus, so Galeotti. Anstatt die Korruption in den Mittelpunkt zu stellen, präsentiert der Kreml die Ermittlungen nun als angebliche „Operation des Westens“, die darauf abzielt, Selenskyj zu schwächen oder gar aus dem Amt zu drängen. In dieser Logik werden NABU und SAPO nicht als ukrainische Institutionen dargestellt, sondern als Werkzeuge westlicher Geheimdienste oder politischer Interessen. Mitunter wird sogar behauptet, ihre „Befehlsketten” lägen in Europa oder jenseits des Atlantiks.
Laut Galeotti kursieren in regimetreuen Medien wie der Komsomolskaja Prawda inzwischen Narrative, die behaupten, der Westen habe erkannt, dass die Ukraine den Krieg verlieren werde, weshalb er Selenskyj austauschen wolle. Diese Erzählung wird noch durch weitere Falschbehauptungen angereichert, beispielsweise, dass der NABU eine direkte Beteiligung des Präsidenten festgestellt habe oder die USA bis Ende November einen „Deal“ vorbereiteten, um Selenskyj fallen zu lassen. (Hinweis: Die letzten Verlinkungen stammen aus kremlnahen Propagandamedien und werden hier ausschließlich zur sachlichen Einordnung zitiert; ihre Legitimität wird nicht anerkannt!).





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