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Medien- und Informationskompetenz im Zeitalter digitaler Desinformation: Herausforderungen, Modelle und Handlungsperspektiven für Deutschland

Aktualisiert: 17. Nov.

Screenshot artlist.io
Screenshot artlist.io

An dieser Stelle zunächst ein ungewohnt persönlicher Exkurs: In einer früheren Nebentätigkeit als Nachhilfelehrer sah ich mich einmal mit der ernsthaften Aussage eines Oberstufenschülers konfrontiert, die Presse stünde unter der Kontrolle der Bundesregierung. Man kann sich meine schockierte Reaktion vorstellen. Ein anderer übernahm unreflektiert Trump-Wahlkampfslogans von TikTok und beharrte darauf, „Sleepy Joe“ hätte die US-amerikanische Wirtschaft ruiniert.


Von der Dringlichkeit medialer Bildung im Zeitalter von TikTok und GenAI


In nahezu jeder bildungspolitischen Debatte wird die Notwendigkeit von Medienkompetenz thematisiert, die es den SchülerInnen zu vermitteln gilt. Zu volle Stundenpläne und LehrerInnenmangel sorgen aber dafür, dass diesem Problem im besten Fall nur verzagt in Form von Workshops oder Projekttagen begegnet wird.

Gerade die Nutzung der vielfältigen Social Media-Plattformen durch Jugendliche macht eine Auseinandersetzung mit diesem Thema unabdingbar. Laut einer Studie des Digitalverbands Bitkom nutzen rund 93 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren soziale Netzwerke. YouTube ist bei 87 % der 10‑ bis 18‑Jährigen die meistgenutzte Plattform, Instagram und Snapchat folgen je mit rund 53 %, TikTok wird von 51 % genutzt. Bei den 16‑ bis 18‑Jährigen steigt die Instagram‑Nutzung auf 85 %, bei den 14‑ bis 15‑Jährigen ist TikTok mit 73 % besonders stark vertreten. Die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer liegt bei 95 Minuten, bei älteren Jugendlichen (16–18 Jahre) sogar bei rund 134 Minuten – also über zwei Stunden täglich.  

Und wer selbst auf diesen Plattformen unterwegs ist, weiß, wie sich auf diesen auch Desinformationen verbreiten, die sich den Eigenschaften sozialer Netzwerke bedienen. Sie zirkulieren auf Social Media durch eine Kombination aus algorithmischer Verstärkung, emotionalisierender Ansprache und gezielter Manipulation durch Akteure mit politischem oder wirtschaftlichem Interesse. Bereits ein erheblicher Teil der erwachsenen NutzerInnen ist nicht in der Lage, Desinformation zu erkennen oder Quellen korrekt einzuordnen, was ihre Verbreitung zusätzlich erleichtert (vgl. Guess et al., 2019). Welche Schwierigkeiten treten diesbezüglich erst bei jugendlichen ReziepentInnen auf? Und diese verstärken sich aktuell durch den Einsatz generativer Künstlicher Intelligenz (GenAI).

Entsprechend veröffentlichte das Weltwirtschaftsforum kürzlich den Bericht Rethinking Media Literacy: A New Ecosystem Model for Information Integrity, welcher die zunehmende Bedrohung der Informationsintegrität im digitalen Zeitalter thematisiert und besonders auf die Verbreitung von GenAI blickt. Der Text plädiert für eine umfassende, systemische Neuausrichtung von Media and Information Literacy (MIL), um eine resiliente, demokratische und informierte Gesellschaft zu fördern. Der Begriff selbst vereint Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen, darunter Medienkompetenz, Informationskompetenz, digitale Kompetenz und zunehmend auch KI-Kompetenz. MIL wird in der UNESCO-Definition als „eine Kombination von Kompetenzen, welche die Menschen in die Lage versetzen, Informationen kritisch zu bewerten, zu nutzen und zu erstellen, sowie sich ethisch und effektiv in verschiedenen Medienformaten zu bewegen“ verstanden (UNESCO, 2021).

Als Problemstellung wurde zunächst die Schwächung des öffentlichen Vertrauens in Medien, Institutionen und Plattformen durch die rasante technologische Entwicklung und die digitale Verbreitung von Informationen identifiziert. Auch im Global Risks Report 2025 wurde Desinformation als zentrales Risiko für gesellschaftliche Stabilität und Demokratie ausgemacht. Vor diesem Hintergrund zielt der Bericht darauf ab, MIL neu zu denken – nicht nur als individuelle Kompetenz, sondern als gesellschaftliche Infrastruktur.

Der Bericht selbst führt zwei miteinander verbundene Modelle ein:


  1. Disinformation Life Cycle – beschreibt fünf Phasen der Desinformationsverbreitung: Pre-creation, Creation, Distribution, Consumption, Post-consumption.

  2. Socio-Ecological Model (SEM) – zeigt fünf Ebenen gesellschaftlicher Einflussnahme: Individuum, interpersonelle Beziehungen, Gemeinschaft, Institutionen, Politik.

Durch die Kombination dieser Modelle wird ein interdisziplinärer, mehrdimensionaler Ansatz zur Intervention ermöglicht.


Lage in Deutschland


Deutschland steht – wie viele andere demokratische Staaten – vor der Herausforderung, die Integrität seiner Informationsräume zu schützen. Bereits die Bundestagswahl 2021 zeigte das Risiko durch gezielte Desinformationskampagnen, insbesondere über soziale Medien. Trotz eines ausgeprägten Mediensystems, einer aktiven Zivilgesellschaft und bewährter öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten sind auch in Deutschland Vertrauen in Medien, politische Institutionen und Plattformen rückläufig – ein Nährboden für Desinformation.

Zwar existieren etablierte Strukturen der politischen Bildung (z. B. Bundeszentrale für politische Bildung), doch es fehlt bislang an einem kohärenten, national koordinierten Medienbildungsrahmen, der sowohl formale als auch non-formale Bildungssektoren integriert.

Das Modell des Disinformation Life Cycle bietet einen sinnvollen Rahmen für deutsche Akteure, um Desinformation nicht nur reaktiv zu begegnen, sondern proaktiv zu unterbrechen. Deutschland hat mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) und der Beteiligung an der EU-weiten Umsetzung des Digital Services Act (DSA) regulatorische Grundlagen gelegt, die sich gut in die vom Bericht vorgeschlagenen Phasen Creation, Distribution und Post-consumption einordnen lassen.

Allerdings fehlt eine starke Verankerung auf der Pre-creation-Ebene, etwa durch strukturelle Prävention über Bildung, Framing-Kompetenz und narrative Resilienz.

Das SEM ist besonders relevant für ein föderales Bildungssystem wie in Deutschland. Es bietet eine systematische Möglichkeit, die Vielzahl beteiligter Akteure – von Schulen, Landesmedienanstalten, Eltern, Vereinen, Medienhäusern bis hin zur Bundespolitik – in eine gemeinsame Strategie zu integrieren. Der Bericht betont explizit die Notwendigkeit lokaler, kulturell eingebetteter Interventionen – was in Deutschland mit seinem dezentralen Mediensystem hohe Anschlussfähigkeit besitzt, aber zugleich Koordinationsprobleme offenbart.


Der Forschungsbericht identifiziert MIL als wesentliches Instrument zur Stärkung der Informationsintegrität und Demokratiefähigkeit. Er hebt hervor, dass MIL Kompetenzen wie Informationsbewertung, Analysefähigkeiten zu KI-generierten Inhalten oder Verständnis für die Algorithmen und ökonomischen Mechanismen von Social Media-Plattformen umfasst. Dabei wird betont, dass MIL nicht nur im schulischen Kontext, sondern auch in der Erwachsenenbildung, im Berufsleben, in der Gemeindearbeit und durch zivilgesellschaftliche Akteure gefördert werden muss. Ebenso wichtig ist die Rolle von Plattformen und Regulierungsbehörden, die durch gezielte Eingriffe systemische Anreize für die Verbreitung glaubwürdiger Informationen setzen sollten.

Die Bundesrepublik verfügt dabei über mehrere vielversprechende Ansätze, auf denen aufgebaut werden kann:


· Initiativen wie „journalismus macht schule, Klicksafe oder Medienkompetenzrahmen NRW“ zeigen, dass MIL bereits in Schulen und Fortbildungen integriert wird – allerdings oft projektbasiert und ohne langfristige Verstetigung.

· Die Landesmedienanstalten fördern Projekte zur Aufklärung über Desinformation, jedoch variiert der Umfang zwischen Bundesländern stark.

·      Digitale Zivilgesellschaft (z. B. Correctiv, Mimikama, FragDenStaat) spielt eine zentrale Rolle in der Aufklärungsarbeit, allerdings meist mit begrenzten Ressourcen und ohne gesetzliche Verankerung.

·   Die Einbindung von Influencern und Content Creators in der politischen Kommunikation (z. B. durch die Bundesregierung während der Corona-Pandemie) kann als Best-Practice im Bereich „Community“ (SEM-Ebene) gewertet werden – muss jedoch professionalisiert werden, wie der Bericht vorschlägt.

Trotz dieser vorhandenen pluralistischen Strukturen und AkteurInnen benennt der Bericht auch kritische Defizite, wie am Beispiel Deutschlands etwa:


·   Fragmentierung: Es fehlt an einer bundesweit abgestimmten MIL-Strategie. Bildung ist Ländersache; viele Programme sind nicht übertragbar oder werden nur lokal implementiert.

·    Fehlende KI-/GenAI-Kompetenzen in der Bildung: Der Bericht fordert explizit, AI Literacy in MIL zu integrieren. In deutschen Schulen ist diese Kompetenz kaum vorhanden, obwohl LLMs und Deepfakes zunehmend genutzt werden.

·  Ungleichgewicht zwischen Plattformregulierung und Nutzerbildung: Während regulatorische Maßnahmen (NetzDG, DSA) existieren, hinken Bildungsmaßnahmen hinterher – insbesondere außerhalb des Schulkontextes (z. B. bei älteren Zielgruppen).

·   Ressourcenschwäche: Viele Initiativen sind fördermittelabhängig und projektbasiert – ohne nachhaltige Finanzierungsmechanismen oder Monitoring-Standards.

Zuletzt liefert der Bericht auch einige Handlungsempfehlungen für Deutschland, die sich wie folgt zusammenfassen lassen:


·   Bundesweite Koordinierung einer MIL-Strategie unter Federführung z. B. des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) gemeinsam mit den Ländern.

·    Verankerung von MIL als Pflichtkompetenz in den schulischen Bildungsplänen – mit Fokus auf KI-Kompetenz, Desinformationsanalyse, Fact-Checking und ethischer Mediennutzung.

·      Ausweitung auf Erwachsenenbildung und berufliche Weiterbildung, insbesondere für öffentliche Bedienstete, Journalisten, Pädagogen und Pflegepersonal – Ziel: MIL als demokratische Basiskompetenz.

·  Einbindung von Plattformen in Kooperationsverpflichtungen: Orientierung am UK-Ansatz (Ofcom, Safety-by-Design) könnte durch die Bundesnetzagentur oder Landesmedienanstalten adaptiert werden.

· Förderung lokaler MIL-Infrastrukturen: Bibliotheken, Volkshochschulen und Stadtverwaltungen als „MIL Hubs“ (ähnlich den UNESCO-„MIL Cities“) etablieren.

Letztlich bietet der Bericht des Weltwirtschaftsforums der Bundesrepublik eine strategische Grundlage, um Medienkompetenz von einer pädagogischen Randaufgabe zu einem strukturellen Pfeiler demokratischer Resilienz zu entwickeln. Die vorgeschlagenen Modelle eignen sich besonders gut für föderale und vielschichtige Gesellschaften wie Deutschland. Damit MIL jedoch wirksam wird, braucht es eine koordinierte nationale Strategie, finanzielle Nachhaltigkeit und die Integration von Plattformverantwortung, Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe in eine gemeinsame Vision für ein gesundes Informationsökosystem.

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