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Im Livestream zu Tode gefoltert - Die Streaming Plattform Kick im Kontext europäischer Digitalpolitik

Aktualisiert: 14. Nov.

Screenshot via Twitch.tv
Screenshot via Twitch.tv


Der Markt für Live-Streaming wächst seit Jahren rasant. 2024 generierte der globale Live‑Streaming‑Markt Umsätze zwischen 88 und 100 Milliarden US‑Dollar. Er soll bis 2030 auf über 345 Milliarden steigen (CAGR circa 23 %). Twitch bleibt mit durchschnittlich 2,4 Millionen gleichzeitigen Zuschauern die klare Nummer 1 im Gaming-Streaming, wie Business of Apps und DemandSage berichten. Doch neue Konkurrenten drängen auf den Markt: YouTube Live, TikTok Live – und seit 2022 auch Kick, das 2024 bereits 2,1 Milliarden Stunden Watchtime und rund 258.000 gleichzeitige Zuschauer verbuchte. Damit ist Kick zwar noch weit von Twitch entfernt, hat sich aber innerhalb kurzer Zeit zu einer relevanten Größe entwickelt.


Funktionsweise und Monetarisierung von Live-Streaming

Live-Streaming-Plattformen ermöglichen es Nutzern, Inhalte in Echtzeit zu übertragen. Das Publikum interagiert über Chat und unterstützt Streamer finanziell durch Abonnements, Spenden oder virtuelle Güter. Die Plattformen selbst verdienen über Werbeeinnahmen, Sponsoring und Abos.


Die Monetarisierungsmodelle unterscheiden sich stark:

  • Twitch: Standardmäßig 50/50 Revenue-Share, für Top-Creator auch 70/30.

  • YouTube Live: 70/30.

  • Kick: 95/5 – die creatorfreundlichste Aufteilung im Markt.


Kick erlaubt es Streamern schon nach 5 Stunden Streaming und 75 Followern in das Affiliate-Programm einzusteigen. Zuschauer können Kanäle dann für 4,99 US-Dollar pro Monat abonnieren. Damit positioniert sich Kick klar als Gegenmodell zu Twitch. Hinzu kommt, dass Kick gezielt Creator mit lukrativen Angeboten abwirbt: Der Kanadier xQc erhielt 2023 einen Vertrag im Wert von 100 Millionen US-Dollar für zwei Jahre – Summen, die sonst nur aus dem Profisport bekannt sind.


Geschichte und Hintergründe von Kick

Kick wurde im Dezember 2022 in Melbourne, Australien gegründet – von Ed Craven und Bijan Tehrani, den Gründern der Glücksspiel- und Kryptoplattform Stake.com. Auslöser war die Entscheidung von Twitch, Glücksspiel-Streams im September 2022 stark einzuschränken. Stake war einer der größten Sponsoren auf Twitch – und brauchte eine neue Bühne. Kick sollte diese Lücke füllen: eine Plattform mit lockereren Regeln, ohne starke Regulierung von Casino-Content.


Die Nähe zu Stake ist bis heute zentral: Kick wird nicht nur durch ähnliche Investoren getragen, sondern verweist auch inhaltlich auf die Glücksspielindustrie. Stake selbst ist in Frankreich verboten, in mehreren EU-Ländern gesperrt und wird in den USA von mehreren Bundesstaaten wegen Verstößen gegen Glücksspielgesetze verfolgt.


Risiken: Glücksspiel, Jugendliche und problematische Inhalte

Kick steht seit Beginn wegen mangelnder Moderation in der Kritik. Auf der Plattform finden sich:

  • Glücksspiel-Streams, die Jugendliche exponieren und teils gezielt ansprechen.

  • Sexuell explizite Inhalte, ohne echte Alterskontrolle.

  • Trash-Streams, in denen Demütigung, Gewalt und Erniedrigung zum Inhalt gemacht werden.


Besonders problematisch: Kick rekrutiert aktiv Creator, die auf Twitch oder YouTube wegen Rassismus, Sexismus oder Hetze gesperrt wurden. Dadurch entsteht eine toxische Kultur, in der Hass, Gewalt und riskante Inhalte normalisiert und monetarisiert werden.

Die parasoziale Bindung zwischen Influencern und ihren oft jugendlichen Fans verstärkt die Gefahr: Junge Menschen sehen Streamer als Vertrauenspersonen oder Vorbilder – und werden gleichzeitig mit Glücksspiel, Hetze oder riskantem Verhalten konfrontiert.

Neben Glücksspiel und Gewaltinhalten spielt auch Desinformation auf Kick eine zunehmende Rolle. Zahlreiche Creator, die wegen Hetze oder Verstößen auf Twitch oder YouTube gesperrt wurden, haben dort eine neue Heimat gefunden. Auf Kick verbreiten sie Verschwörungstheorien, antisemitische Narrative oder falsche Informationen zu Politik und Gesundheit. Durch die laxen Moderationsregeln und die algorithmische Verstärkung erreicht dieser Content besonders junge Zielgruppen. Damit reiht sich Kick in eine breitere Entwicklung ein, bei der alternative Plattformen gezielt als Rückzugsräume für Desinformationsakteure genutzt werden – mit erheblichen gesellschaftlichen Risiken.


Neue Richtlinien seit 2025

Kick hat zwar angekündigt, auf Kritik zu reagieren:

  • Einführung eines Meldesystems für problematische Inhalte.

  • „High-Risk“-Richtlinien für Streams mit potenziell gefährlichen Inhalten.

  • Strengere Regeln für Glücksspiel-Streams seit 1. Februar 2025: inklusive Altersüberprüfung und Einschränkungen bei Casino-Inhalten.


Doch ExpertInnen wie die NGO HateAid sehen diese Maßnahmen als unzureichend. Inhalte zu Gewalt, Erniedrigung und Selbstverletzung sind weiterhin zugänglich – und Verstöße gegen eigene Richtlinien werden nur selten konsequent geahndet.


Der aktuelle Fall Raphaël Graven (Jean Pormanove)

Ein besonders drastischer Fall machte im August 2025 weltweit Schlagzeilen: Der französische Streamer Raphaël Graven (46), bekannt als Jean Pormanove, starb während eines marathonsartigen Livestreams mit über einer Million Followern auf Kick. In den Stunden vor seinem Tod wurde er von Co-Streamern live gedemütigt, geschlagen, gewürgt und mit Paintball-Waffen beschossen.

Während Graven an einer Herzschwäche litt, ermittelt die französische Polizei wegen Körperverletzung und fahrlässiger Tötung. Die Szenen wurden hunderttausenden Zuschauern ungefiltert zugänglich gemacht.


Die französische Medienaufsicht Arcom reagierte scharf und warf Kick vor, gegen den Digital Services Act (DSA) zu verstoßen, da die Plattform bis dato keinen EU-Vertreter benannt hatte. Erst nach Gravens Tod wurde ein solcher in Malta nachgereicht – doch selbst dortige Behörden erklärten, davon nicht informiert worden zu sein.


Kick im Kontext der europäischen Digitalpolitik

Kick ist aktuell kein Very Large Online Platform (VLOP) im Sinne des DSA, da es (noch) unter 45 Millionen EU-Nutzer hat. Damit liegt die Aufsicht bei den nationalen Digital Services Coordinators (DSC) – in Deutschland die Bundesnetzagentur, in Frankreich die Arcom. Die EU ist also nicht zuständig, sondern 27 einzelne DSCs. Dennoch fühlte sich bis zu Gravens Tot niemand wirklich zuständig.

DSCs forderten Kick zwar bereits 2024 zur Ernennung eines EU-Vertreters auf. Kick reagierte nicht. Erst nach dem Tod Gravens wurde ein Vertreter in Malta benannt, doch selbst dort fehlt Transparenz.

Die NGO HateAid kritisierte scharf, dass Kick den DSA verletzt habe, indem es monatelang keinen EU-Vertreter benannte. Zudem seien Inhalte zu Selbstverletzung und Gewalt klar gegen die eigenen Richtlinien der Plattform verstoßen.


Der Fall offenbart die zentrale Schwachstelle des DSA: Kleine, nicht in der EU ansässige Plattformen können Regulierung umgehen, indem sie keinen EU-Vertreter benennen und nationale Behörden die Verantwortung gegenseitig zuschieben.


Was die EU aus dem Fall lernen sollte

Kick zeigt exemplarisch, wie die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie extreme Inhalte fördert: Glücksspiel, Hass, Demütigung und Gewalt werden monetarisiert – mit einer klaren Zielgruppe: Kinder und Jugendliche.

Die Plattform ist eng verflochten mit der Glücksspiel- und Kryptobranche, rekrutiert gesperrte Hass-Influencer und toleriert gefährliche Inhalte. Selbst wenn neue Richtlinien eingeführt werden, bleiben sie wirkungslos, solange die Durchsetzung fehlt.


Für die europäische Digitalpolitik ist Kick ein Weckruf: Der Fall Graven zeigt, dass der Digital Services Act an seine Grenzen stößt, wenn Plattformen klein genug sind, um nicht unter die VLOP-Regeln zu fallen, aber groß genug, um Millionen Nutzer in Europa zu erreichen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen lernen, auch gegen solche Akteure entschlossener vorzugehen – sonst droht die Vision eines sicheren, demokratischen digitalen Raums zu scheitern.

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