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Vom Machtfaktor zur Zielscheibe – Der Wandel des „Brussels Effect“

Aktualisiert: 14. Nov.

In seinem neuen Artikel auf the Loop beleuchtet Mateusz Łabuz, IFSH,  eine bemerkenswerte Umkehrung eines altbekannten Mechanismus der EU: des sogenannten Brussels Effect. Dieser beschreibt ursprünglich die normative und regulatorische Strahlkraft der Europäischen Union, deren Standards weit über die eigenen Grenzen hinaus wirksam werden – sei es durch die schiere Marktgröße oder durch ein Bekenntnis zu liberalen Werten wie Datenschutz, Transparenz und Menschenrechten.


Bildquelle: Artlist.io
Bildquelle: Artlist.io

Łabuz argumentiert jedoch, dass diese regulatorische Außenwirkung zunehmend ins Gegenteil verkehrt wird. Die EU sieht sich nicht mehr nur als globaler Normgeber, sondern wird selbst zum Ziel von Kampagnen, die ihre regulatorischen Ambitionen als innovationsfeindlich, übergriffig oder gar gefährlich für unternehmerische Freiheit darstellen. Dieser, wie er ihn nennt, Reverse Brussels Effect sei nicht bloß ein diskursives Phänomen, sondern ein Angriff auf das normative Fundament der EU selbst.


Der klassische „Brussels Effect“: Regulierung als Machtinstrument

Łabuz greift die von Anu Bradford etablierte Theorie des Brussels Effect auf, wonach die EU über die Kombination aus wirtschaftlicher Marktmacht und hoher regulatorischer Standards Einfluss auf globale Märkte nimmt. Unternehmen orientieren sich, oft aus reinem Effizienzdenken, lieber an den strikten EU-Vorgaben, statt verschiedene nationale Standards parallel zu bedienen. Der Brussels Effect zeigt sich exemplarisch an der DSGVO, da viele internationale Unternehmen – selbst außerhalb der EU – ihre Datenschutzstandards an die europäischen Vorgaben anpassen, um weiterhin Zugang zum EU-Binnenmarkt zu behalten.

Doch die Bedeutung dieses Effekts geht über wirtschaftliche Vorteile hinaus: Die EU kann durch ihre Regulierung auch Werte exportieren – etwa in den Bereichen Umwelt, Datenschutz oder digitale Grundrechte. Es handelt sich also um eine Form „weicher Macht“ (soft power), die bislang als Erfolgsmodell galt.


Der „Reverse Brussels Effect“: Regulierung als Angriffspunkt

Mit dem Begriff Reverse Brussels Effect beschreibt Łabuz die zunehmende Instrumentalisierung von Kritik an EU-Regulierungen, um die Legitimität und Autorität der EU zu unterminieren. Diese Kritik sei nicht immer sachlich oder wohlmeinend. Vielmehr würden Akteure wie Big-Tech-Konzerne oder auch politische Gegner der EU gezielt Narrative verbreiten, die ihre Regulierungsanstrengungen als innovationshemmend oder bürokratisch darstellen.


Ein prominentes Beispiel ist der EU AI Act von 2024 – eine ambitionierte Regulierung, die künstliche Intelligenz auf Basis ethischer Leitlinien bändigen will. Łabuz zeigt, wie diese Initiative, statt als Schutz demokratischer Werte verstanden zu werden, in einem zunehmend transatlantischen Diskurs als Zeichen europäischer Innovationsfeindlichkeit interpretiert wurde. Der Slogan „The US innovates, China replicates, and the EU regulates“ ist dabei Ausdruck eines unternehmerischen wie politischen Anti-EU-Narrativs, das sich vor allem in digitalen Öffentlichkeiten verfestigt. Obwohl konstruktive Kritik an Regulierungen wichtig ist, beruhen viele Vorwürfe auf Vereinfachungen oder sogar falschen Behauptungen. Diese gezielte Instrumentalisierung von Narrativen findet besonders bei europäischen Start-ups Anklang und wird in den sozialen Medien stark verstärkt. Sie wirkt wie eine selffulfilling prophecy – und schwächt letztlich die Innovationsfähigkeit der EU.


Kritik mit System: Die Narrative hinter dem Anti-Regulierungsdiskurs

Łabuz warnt, dass die Rhetorik gegen „Überregulierung“ oft auf Vereinfachungen oder gar Desinformation beruht – etwa der Vorwurf, Regulierung bremse per se technologische Entwicklung, oder sie sei inkompatibel mit unternehmerischer Freiheit. Dabei blendet die Kritik systematisch aus, dass gerade nicht- oder nur teilweise regulierte Technologien – wie KI oder Social Media – zunehmend zur Bedrohung demokratischer Prozesse werden können.


Besonders kritisch sieht Łabuz die Rolle US-amerikanischer Akteure, die in einem Klima strategischer Konkurrenz regulatorische Ambitionen der EU als geopolitisches Problem stilisieren – etwa in Aussagen wie jenen von US-Vizepräsident JD Vance, die die EU direkt als Bedrohung amerikanischer Werte darstellten. Dahinter erkennt Łabuz nicht bloß ökonomisches Kalkül, sondern einen bewussten Angriff auf die normative Autorität Europas.


Gefährdung der Werteexportfunktion – und was dagegen zu tun ist

Łabuz argumentiert, dass diese Form der Diskreditierung weitreichende Folgen hat: Sie schwächt nicht nur die regulatorische Position der EU nach außen, sondern auch ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung im Inneren. Wenn europäische Standards als Belastung und nicht als Errungenschaft wahrgenommen werden, wird der politische Rückhalt für regulatorische Vorhaben brüchig.


Er verweist auf den Umgang mit der DSGVO als Lehrstück. Auch sie wurde anfangs als überzogen kritisiert, gilt inzwischen aber weltweit als Vorbild für Datenschutzregelungen. Hier zeigt sich: Nachhaltige Regulierung braucht nicht nur Expertise, sondern auch Kommunikation, Resilienz und politisches Durchhaltevermögen. Łabuz fordert daher kein Weniger an Regulierung, sondern ein intelligenteres Regulieren – flankiert durch bessere Kommunikation, gezielte Förderung der Digitalwirtschaft und entschiedene Gegenwehr gegen anti-europäische Narrative. Der Rückzug aus der Rolle des globalen Normgebers wäre nicht nur ein strategischer Fehler, sondern eine Kapitulation vor jenen, die liberale Werte bewusst untergraben wollen.


Bewertung und Einordnung

Mateusz Łabuz gelingt mit dem Konzept des Reverse Brussels Effect ein scharfsinniger und empirisch anschlussfähiger Beitrag zur Debatte über die Rolle der EU in der digitalen Weltordnung. Besonders wertvoll ist seine Verbindung von normativer Analyse und diskurstheoretischer Beobachtung: Regulierung ist eben nicht nur ein technisches oder wirtschaftliches Thema, sondern ein zutiefst politischer Akt, der Angriffen ausgesetzt ist.

Gleichzeitig wirft der Artikel Fragen auf, die in zukünftigen Analysen vertieft werden sollten: Inwiefern trägt die EU selbst durch mangelnde Innovationsförderung oder komplizierte Verfahren zu ihrem Image als „Bürokratiemonster“ bei? Wie kann regulatorische Kommunikation verbessert werden, um auch Start-ups oder Tech-Szene für Werte-basierte Standards zu gewinnen? Und: Welche Rolle spielen interne politische Spannungen innerhalb der EU (z. B. zwischen Mitgliedstaaten) bei der Verwundbarkeit durch den Reverse Brussels Effect?

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