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Robust, aber nicht bereit: Wo Europas Abwehr gegen Desinformation weiterhin Lücken hat

Aktualisiert: vor 5 Tagen

Screenshot: artlist.io
Screenshot: artlist.io

Letzten Monat veröffentlichte das European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats (Hybrid CoE) seinen 15. Research Report Countering Disinformation in the Euro-Atlantic: Strengths and Gaps, verfasst von Jakub Kalenský und Heidi Hanhijärvi. Die Studie bietet einen der bislang umfassendsten Einblicke in den Aufbau von Systemen zur Abwehr von Desinformation in Europa und Nordamerika.

Der Bericht kombiniert quantitative Daten mit qualitativen Erkenntnissen aus dem jährlichen Workshop des Hybrid CoE für PraktikerInnen der Desinformationsabwehr. Grundlage hierfür sind Antworten aus 23 Regierungen und Organisationen des EU- und NATO-Raums. Gemeinsam zeichnen diese Befunde die Entwicklung des euro-atlantischen Informationsraums seit Beginn der russischen Kampagnen im Jahr 2014 nach und zeigen, in welchen Bereichen nationale Systeme trotz jahrelanger Erfahrung weiterhin verwundbar sind.


Ein Jahrzehnt voller Informationskrieg - was haben wir daraus gelernt?


Seit mehr als zehn Jahren ist Desinformation eine sicherheitspolitische Realität in Europa. Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 begann Russlands koordinierte, mehrsprachige Desinformationskampagne, so die AutorInnen, ein Weckruf, der zugleich als Experimentierfeld für Gegenmaßnahmen diente. Einige der frühesten und innovativsten Reaktionen kamen aus der Ukraine, wo zivilgesellschaftliche Akteure wie StopFake Falschmeldungen systematisch dokumentierten und widerlegten. 2015 folgte die EU mit der Initiative EUvsDisinfo, und nationale Regierungen entwickelten eigene Strategien und Werkzeuge.

Der Bericht des Hybrid CoE zeigt: Die euro-atlantische Gemeinschaft hat im Bereich Erkennung, Überwachung und Sensibilisierung viel gelernt. Zahlreiche Maßnahmen wurden erprobt, angepasst und teilweise institutionell verankert. Doch diese Fortschritte sind ungleich verteilt. Nur wenige Staaten (meist jene, die der Bedrohung am unmittelbarsten ausgesetzt sind) haben Maßnahmen entwickelt, die über Aufklärung hinausgehen und tatsächliche Kosten für InformationsangreiferInnen verursachen. Laut Bericht zirkuliert dieses Wissen weiterhin vor allem in kleinen ExpertInnenkreisen und nicht systematisch innerhalb der Institutionen.


Das Konzept: Vier Verteidigungslinien


Zur Strukturierung der Ergebnisse nutzt der Bericht das 2019 vom Hybrid CoE entwickelte Modell der vier Verteidigungslinien. Es bildet den gesamten Prozess der Desinformationsabwehr, von der Erkennung bis zur Abschreckung, ab und macht Fortschritte und Lücken sichtbar.

Die erste Linie, Erkennung und Dokumentation (detection, monitoring, documentation), zielt auf ein besseres Lagebewusstsein ab. Dazu werden Kampagnen, Narrative und Verbreitungskanäle systematisch beobachtet und ihre Reichweite und Wirkung bewertet.

Die zweite Linie, die Sensibilisierung (raise awareness), konzentriert sich auf die Aufklärung der Öffentlichkeit und die „Immunisierung” gegen manipulative Inhalte.

Die dritte Linie, Behebung der Schwachstellen (repair and prevent weaknesses), adressiert strukturelle Risiken wie geringe Medienkompetenz, institutionelles Misstrauen oder den Niedergang unabhängiger Medien.

Die vierte Linie, Einschränkung und Abschreckung von AngreiferInnen (limit and/or punish the perpetrators), richtet sich direkt gegen TäteInnen, etwa durch rechtliche, finanzielle oder reputationsbezogene Konsequenzen.

Dieses Konzept ermöglicht es, Stärken und Defizite entlang der gesamten Kette der Gegenmaßnahmen zu erfassen.


Strategische Lücken


Fast alle befragten Länder erkennen Desinformationen als erhebliche Bedrohung für die nationale Sicherheit an. Doch Erkenntnis bedeutet nicht automatisch Strategie: Fast die Hälfte der Länder verfügt über kein eigenständiges nationales Konzept zur Bekämpfung von Desinformation. Ohne eine solche Grundlage bleibt die Koordination oft ein improvisierter Prozess zwischen Ministerien, Behörden und externen AkteurInnen.

Trotzdem gaben rund 70 Prozent der Befragten an, dass die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen funktioniere. Viele setzen auf dezentralisierte Strukturen, in denen unterschiedliche Institutionen einzelne Aspekte des Problems bearbeiten.

Ein weiteres Defizit betrifft die Kommunikation: Nur rund die Hälfte der Befragten stuft die staatlichen Maßnahmen gegen Desinformation als gut erklärt oder transparent ein. Das Vertrauen der Öffentlichkeit ist jedoch eine zentrale Voraussetzung, denn ohne es können Gegenmaßnahmen leicht als Zensur oder parteipolitisch motiviert wahrgenommen werden.

Der Bericht hebt besonders die Rolle der Zivilgesellschaft hervor. In fast allen Ländern sind Medien, NGOs und die Wissenschaft an der Desinformationsabwehr beteiligt und kompensieren oft fehlende staatliche Kapazitäten.


Ergebnisse: Erste Linie


Am weitesten entwickelt ist die erste Verteidigungslinie, also die Erkennung und Dokumentation. Über drei Viertel der Regierungen überwachen systematisch ausländische Desinformationskampagnen und viele von ihnen auch inländische AkteurInnen, die fremde Narrative weiterverbreiten. Russland und China stehen dabei ganz oben auf der Liste der beobachteten Akteure.

Doch jenseits der reinen Beobachtung zeigen sich Defizite: nur wenige Länder verfügen über standardisierte Methoden zur Bewertung des Bedrohungsgrads oder der Wirksamkeit von Kampagnen. Die meisten stützen sich auf klassische Medien- und Social-Media-Analysen, während fortgeschrittene Verfahren wie KI-gestützte Analysen, Echtzeit-Monitoring oder öffentliche Meldesysteme nur vereinzelt genutzt werden.

Auch schnelle Reaktionsmechanismen, die Falschmeldungen unmittelbar widerlegen, sind selten etabliert. Quer durch alle Antworten zieht sich der Befund mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen.


Ergebnisse: Zweite Linie


Aufklärungskampagnen sind die sichtbarste Maßnahme vieler Regierungen. Etwa zwei Drittel der Staaten führen sie regelmäßig durch, meist in Form von Pressemitteilungen, Bildungsbroschüren, Seminaren oder Beiträgen in den sozialen Medien. Dennoch bezweifeln viele Verantwortliche, dass diese Kampagnen die Bevölkerung tatsächlich über die Funktionsweise von Desinformation aufklären.

Der Bericht zeigt, dass staatliche Kommunikation oft auf klassische Formate setzt, die in fragmentierten digitalen Öffentlichkeiten jedoch nur begrenzt wirken. Innovativere Ansätze, wie spielerische Formate, Kooperationen mit InfluencerInnen oder der gezielte Einsatz von Humor, sind bislang Ausnahmen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen tragen die Sensibilisierung entscheidend mit. In über 80 Prozent der befragten Länder sind NGOs aktiv beteiligt. Doch staatliche Unterstützung bleibt schwach. Das Missverhältnis zwischen der zentralen Rolle zivilgesellschaftlicher AkteurInnen und der geringen Förderung zieht sich durch alle Untersuchungslinien.


Ergebnisse: Dritte Linie


Während die Sensibilisierung Symptome behandelt, zielt die dritte Linie auf die strukturellen Ursachen ab. Dazu gehören Medienkompetenz, Vertrauen in Institutionen und die Stärkung unabhängiger Medien.

Die Bilanz fällt hier gemischt aus. So haben weniger als die Hälfte der Staaten Medienbildung in Schulprogramme oder Bibliotheksangebote integriert. Meist werden Online-Materialien oder lokale Workshops genutzt. Obwohl über 70 Prozent der Befragten angeben, dass NGOs in der Medienbildung aktiv sind, erhalten sie selten ausreichende staatliche Unterstützung. Nur etwa ein Drittel fördert regelmäßig unabhängige Medien oder zivilgesellschaftliche Projekte.

Auch strategische Kommunikation, beispielsweise zur Vertrauensbildung oder zur Verringerung gesellschaftlicher Polarisierung, ist schwach ausgeprägt. Die Zusammenarbeit mit sozialen Plattformen bleibt punktuell und unsystematisch.


Ergebnisse: Vierte Linie


Die vierte Verteidigungslinie zielt auf die TäterInnen selbst ab und ist zugleich die am wenigsten entwickelte.Die Hälfte der Befragten ist der Meinung, dass ihr nationales Recht unzureichend ist, um Desinformation wirksam zu bekämpfen. Meist greifen Regierungen auf bestehende Gesetze zu Hassrede oder Verleumdung zurück, anstatt spezifische Regelungen einzuführen. Nur wenige Länder nutzen Instrumente wie finanzielle Sanktionen, die Kennzeichnung von Desinformationsquellen oder den Ausschluss wiederholter TäterInnen von Presseveranstaltungen.

Auch die Kooperation mit Social-Media-Unternehmen ist lückenhaft und es fehlen häufig die Ressourcen für Ermittlungen oder Sanktionen. Während Überwachung und Aufklärung professionalisiert wurden, bleibt Abschreckung weitgehend symbolisch. Solange AngreiferInnen kaum Konsequenzen fürchten müssen, bleibt das Machtgefälle zwischen offenen Demokratien und autoritären Informationsstrategien bestehen.


Von gelernten zu geteilten Lektionen


Ein Blick auf alle vier Linien ergibt ein eindeutiges Bild: Die euro-atlantische Gemeinschaft verfügt zwar über zehn Jahre Erfahrung, doch die Umsetzung bleibt fragmentiert. Das Wissen darüber, was funktioniert ist vorhanden, jedoch ungleich verteilt und chronisch unterfinanziert. Die Autorinnen des Hybrid-CoE-Berichts fordern daher mehr Ressourcen – finanziell, institutionell und intellektuell – sowie eine systematische Kooperation zwischen Regierungen und Zivilgesellschaft. Abschreckung müsse über symbolische Gesten hinausgehen und den InformationsangreiferInnen tatsächliche Kosten verursachen.

Ein Jahrzehnt nach der Krim-Annexion ist Europas Abwehr gegen Desinformation deutlich robuster als früher. Doch Robustheit ist nicht gleich Bereitschaft. Die eigentliche Herausforderung besteht nun darin, bereits gewonnene Erkenntnisse nicht in Berichten und Workshops verharren zu lassen, sondern sie in die Praxis umzusetzen, bevor die nächste Welle der Desinformation anrollt.

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