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Über Casting-Shows in den Kreml – Die Pop-Propaganda von Shaman

Aktualisiert: 17. Nov.

Screenshot via Youtube.com
Screenshot via Youtube.com

Bereits in der sechsten Ausgabe unseres Newsletters untersuchte Anamaria die zunehmende Instrumentalisierung von Reality-TV-Formaten im Rahmen russischer Propaganda. Wie jede gute, diversifiziert-konzipierte Kampagne endet diese aber nicht beim Fernsehen, sondern bespielt auch sämtliche andere Medienformen. Aber während bspw. russische Kinoproduktionen, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine und häufig die Opferbereitschaft des eigenen Volkes thematisieren, kaum ein heimisches Publikum finden, also „floppen“, verzeichnet der Kreml große Erfolge im musikalischen Sektor. In seinem Artikel Die von Russland seit Beginn des Ukraine-Kriegs audiovisuell propagierte Körperlichkeit, ihre Transformation, Funktion und Wirkung: Eine filmpsychologische Betrachtung betrachtet der Dipl.-Psychologe Johann Pibert das Musikvideo-Œuvres des russischen Sängers Shaman, welcher zu Beginn des Ukraine-Krieges zum Superstar avancierte und Russlands zentrale Medienstrategie verkörpert, die breite Zivilbevölkerung zu ästhetisieren. In Zusammenarbeit mit dem Historiker und russischen Dissidenten Grigorii Golubev erweiterte Pibert seine Analyse und stellte diese in einem Panel während der diesjährigen Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaft an der Universität Paderborn vor.

Shaman selbst durchlief während seiner Karriere eine beeindruckende Transformation, sowohl optisch, als auch hinsichtlich der Inhalte seiner Songs. Nachdem er mehrere Jahre erfolglos in diversen Casting-Show-Formaten aufgetaucht war, trat er am 30. September 2022 auf dem sog. „Annexionskonzert“ auf, welches die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Gebiete Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja nach zuvor durchgeführten Scheinreferenden feierte und im Fernsehen und im Internet live übertragen wurde.


Affektiv-integrative Filmpsychologie als Analyserahmen für Shamans propagandistische Musikvideos


Es kann heute nicht abschließend verifiziert werden, ob Shaman, bürgerlich Jaroslaw Jurjewitsch Dronow, bewusst vom Kreml aus musikalischer „Figure head“ für deren Propagandamaschine ausgewählt wurde oder ob der 33-jährige sich selbst den Machthabern für diese Rolle angedient hat. Als gesichert betrachtet kann jedoch, dass Dronow heute der erfolgreichste Vertreter des „Z-Pop“ ist, der sich mit Songs wie „Wir“, „Ich bin Russe“ oder „Mein Kampf“ sehr klar in den Dienst des russischen Propagandaapparats stellt und so zur uneingeschränkten Nummer 1 der Z-patriotischen Musikszene avancierte.

Ausgehend von einer filmpsychologischen Erfahrungsmatrix lässt sich zunächst konstatieren, dass Shamans Videos primär auf der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene auf der Meso-Ebene des Gefühls miteinander verschmelzen.


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Die affektiv-integrative Filmpsychologie ist konzipiert als ein transdisziplinäres und anwendungsorientiertes Forschungsfeld, das „das Erleben und Verhalten von RezipientInnen audiovisueller Kunstwerke vor, während und nach der ästhetischen Erfahrung beschreibt, erklärt und vorhersagt“ (vgl. Pibert 2019: 147). Sie wurde vor dem Hintergrund filmkultureller Wandlungsprozesse wie etwa Digitalisierung, Medienkonvergenz und insbesondere Relokalisierung entwickelt und lässt sich auf Musikvideos anwenden, die in den vergangenen zwanzig Jahren eine Relokalisierung von MTV und VIVA zu YouTube erlebt haben. Zum Erleben von RezipientInnen zählen affektive und kognitive Phänomene, wie z. B. Gefühle und mentale Repräsentationen, zum Verhalten konative, wie z. B. das Teilen von Musikvideos.

Die Filmpsychologie ist affektiv-integrativ, weil sie eine Präzedenz affektiver Phänomene vor kognitiven annimmt, diese jedoch zu integrieren versucht. Sie ist darüber hinaus situativ, weil Rezeptionssituationen und -räume – also unterschiedliche Perspektiven – berücksichtigt werden, und prozessualdynamisch, weil sie auf Vitalität und Bewegung theoretisch rekurriert.

Es sei angemerkt, dass die Wirkung eines Musikvideos umso größer ausfällt, je stärker seine Ästhetik mit der Rezeptionsästhetik synchronisiert wird. Auf Menschen in Russland, die von Z-Ästhetik umgeben sind, wirken Shamans Musikvideos also stärker als auf westliche Publika. Darüber hinaus lässt sich Shamans Erfolg aus der Bindung seiner Fans, diese aus deren Zufriedenheit, und diese wiederum aus dem Grad an Emotionalisierung vorhersagen, kurzum: je emotionaler, desto erfolgreicher.


Religiöse Symbolik, NS-Ästhetik und die Strategie der Emotionalisierung


Ein Gefühl der Dazugehörigkeit evoziert bspw. Shamans Lied „Ich bin Russe“ („Я русский“), in welchem nicht nur zwei unterschiedliche Handlungsräume mit einem Weizenfeld und einem Konzertsaal gegenübergestellt werden, sondern metaphorisch auch die Natur/russisch und die Kultur/westlich. Am Ende des Videos werden nochmal sehr subtil die Herrschaftsansprüche des Kreml offensichtlich, wenn nicht nur zwei PoC in Hollywood, sondern auch Außerirdische in einem Raumschiff zu dem Song tanzen. Weniger angetan von dem Songtext waren russische Eltern tatarischer Abstammung, die durch die Selbstbeschreibung „Ich bin Russe“ aufgebracht waren.

Im Musikvideo zu „Die Beichte“ („Исповедь“) trennt sich Shaman von seinem äußerlich westlichsten Merkmal, welches ihn während seiner Casting-Show-Karriere noch auszeichnete: seine blonden Dreadlocks werden ihm, in einer Kirche knieend, von einem Geistlichen abgeschnitten. Dabei reicht er dem Priester selbst demütig die Schere, symbolisiert damit eine Art Läuterung von seiner früheren, westlichen Dekadenz, von der sich Shaman nun mit Hilfe des Glaubens zu reinigen sucht. Gleichzeitig symbolisiert das Video natürlich auch die Allianz zwischen Wladimir Putin und dem Patriarchen Kirill, dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Die dezidiert kirchliche Symbolik, als auch die teils von Allmachtsfantasien begleitete, das Fremde diskreditierende Zeichnung des Selbstbilds spielen tatsächlich eine zentrale Rolle im Oeuvre Shamans. Wenn Glauben als Praktik an die Stelle des eigenständigen Recherchierens, der Analyse und Synthese von Wissen – kurz: anstelle des Denkens – tritt, ist der Weg zur Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien (vgl. Yablokov/Chatterje-Doody 2022) und Fake News (vgl. Khaldarova/Pantti 2016) nicht weit. Denn Propaganda „ordnet Wahrheit dem instrumentellen Kriterium der Effizienz unter“ (vgl. Bussemer 2005: 30). Russland führt bekanntlich nicht nur einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern auch einen Informationskrieg gegen den Westen, sodass es neben der tatsächlichen Rekrutierung von Soldaten eine symbolische Rekrutierung von Menschen gibt, die sich in einer „Community der Dazugehörigen“ wiederfinden (vgl. Edenborg 2017: 148). Speziell die Strategie der Emotionalisierung spielt im Informationskrieg eine zentrale Rolle für Verschwörungstheorien und symbolische Rekrutierungen spielt.


Einer dezidierten NS-Ästhetik bedient sich das Musikvideo zu „Wir“ („Мы“), in dem Shaman breitbeinig auf einem Podest in der kühl-metallischen Umgebung eines Forschungszentrums steht und, die Arme immer wieder zur Seite werfend, mit eiserner Stimme und einer Russland-Armbinde „die Wahrheit, die einzige für die ganze Welt“ präsentiert. Eine Gruppe von 20 Kindern ist zu beiden Hälften hinter dem Podest oder auf einem Skywalk aufgereiht, doch das Erschrecken kommt auf, wenn diese Kinder, an die Hitler-Jugend erinnernd, aufmarschieren. Gleichzeitig werden einzelne Kinder in dem Forschungszentrum als klüger und stärker als die Erwachsenen portraitiert, da sie diese etwa beim Schach oder Judo mit Leichtigkeit besiegen können, was die Überlegenheit des russischen Volkes symbolisieren soll. Es ist offensichtlich, dass Aufbau und Ästhetik des Videos ein russisches Publikum adressieren. Westlichen Rezipienten sind die dargestellten Topoi dagegen allzu vertraut, denn die dargestellten Kinder und deren Ausbildung erinnern an Charaktere aus Hollywood-Produktionen von Ivan Drago bis Natasha Romanoff. Das Forschungszentrum selbst besitzt dabei eher die Charakteristika eines Superschurkenverstecks anstelle einer Kaderschmiede der russischen Elite und ein westliches Publikum wäre nicht überrascht, säße bei Shaman plötzlich eine weiße Katze auf dem Schoß. Die intendierte Zielgruppe ist aber ohnehin eine andere, nämlich speziell Schulkinder, denen diese Musikvideos bereits im Unterricht präsentiert werden. Am Anfang von „Wir“ prangt auch die Botschaft am Sternenhimmel: „Wir – das ist unsere große Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alle künftigen Erfolge, Errungenschaften und Siege Russlands sind bereits heute in der neuen Generation angelegt. Die Zukunft Russlands – das sind Kinder“. Russischen Schulkindern kann, aufgrund mangels historischem Vorwissen, die NS-Ästhetik dieser Videos entgehen und so verfängt sich auf der Meso-Ebene nur die Botschaft, dass sie als Teil des überlegenen Volkes bereit sein müssen, für dieses alle Opfer zu bringen. Dass diese Nachricht verfängt, zeigt sich bspw. an dem Kommentar eines Schülers unter dem Video: „Man hat uns dieses Lied in der Schule vorgespielt und es hat mir sehr gefallen und Sie sind der beste Sänger in Russland“(@user-pp5or7qf1b/Геля).

Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass die Musikvideos auf der instrumentalen Ebene durchaus auch für ein westliches Publikum ansprechend sind, was aber letztlich dem Pop-Genre geschuldet ist. Dies lässt sich bspw. auch bei dem Lied „Sigma Boy“ von Betsy & Mascha Jankowskaja beobachten, in dessen Musikvideo offensichtlich westliche Figuren zitiert werden, wie Patrick Bateman aus American Psycho.


Musikalische Indoktrination im russischen Schulwesen als Teil staatlicher Propagandastrategien


Nicht zuletzt im russischen Bildungswesen hat sich in den letzten Jahren ein besorgniserregender Wandel vollzogen, auf welchen Pibert verweist: Zum 1. September 2023 traten in Kraft, die die sog. „Gespräche über das Wichtige“ für alle 17,7 Millionen Schulkinder verpflichtend machen; dazu gibt es eine militärische Grundausbildung in den letzten zwei Schuljahren und sogar die Legalisierung von Zwangsarbeit für Kinder. Diese finden jeden Montagmorgen in den ersten Unterrichtsstunden statt und indoktrinieren die Schulkinder vor allem über kurze Lehrfilme, die in ausgeklügelte Mediensammlungen mit teils interaktiven Inhalten eingebunden sind, in denen wiederum Shamans Musikvideos eingebunden sind und wo von seiner Popularität profitiert wird. Der Gebrauch von (Pop-)Musik, der stets mit einer Emotionalisierung von Rezipierenden einhergeht, wird dann zum Missbrauch, wenn er mit strategisch-kulturellen Inhalten verknüpft wird, die gegen die Menschlichkeit gerichtet sind – genauer gesagt: gegen die Universalität der Menschenrechte in einer wie von Putin intendierten, multipolaren Weltordnung.

Befasst man sich mit den Inhalten und den Verbreitungswegen der russischen Propaganda, so kann diese als „propaganda on demand“ konzeptualisiert werden, die von Inkonsistenz und Eklektizismus gekennzeichnet ist (vgl. Litvinenko 2022). Dies bedeutet, dass es keine kohärente übergreifende Ideologie gibt, von welcher die konstruierten Narrative top-down abgeleitet werden. Vielmehr werden die Narrative bottom-up auf den jeweiligen Kommunikationskanal und die jeweilige Zielgruppe zugeschnitten, wobei ein Überangebot an sich teilweise widersprechenden Informationen präsentiert wird, damit sich jede Person ihre eigene Wahrheit herauspicken kann. Das Fehlen einer kohärenten Ideologie, einer Putinschen Doktrin, führt mitunter zu der Aussage, das heutige Russland sei kein faschistischer Staat.


Fazit


Shamans popkulturelles Œuvre ist dabei in der Lage, gefährliche Früchte zu tragen. Es löst Euphorie, Stolz und Dazugehörigkeit bei denjenigen Menschen aus, die sich den Mechanismen der Propaganda nicht entziehen konnten. Die hohe Qualität der Musikproduktion, des Gesangs, der Musikvideos stellt eine besondere Gefahr dar, weil Rezipierende mit hoher Wahrscheinlichkeit emotionalisiert werden. Es ist die – teils durch Körperlichkeit erlangte – Wirkungsmacht der Emotionalisierung, die den propagierten Inhalten Tür und Tor öffnet. Das Anti-Kriegs-Publikum wird ebenfalls in die Affektdramaturgien hineingezogen, doch immer wieder durch Entsetzen, Schock und kognitive Dissonanz herausgeworfen, was Kipperfahrungen produziert. Als einziger Superstar konzentriert Shaman die popkulturelle Rezeption auf sein eingeschränktes, homogenisierendes Angebot an nationaler Identität und Kriegsmobilisierung. Er ist der (An-)Führer, dem die Masse zu folgen hat. Dabei entsteht eine paradoxe Mischung aus Individualismus und Kollektivismus: Jeder einzelne soll einerseits etwas Besonderes sein – so werden z. B. in »Wir« einige Kinder mit ihren besonderen sportlichen oder intellektuellen Fertigkeiten namentlich herausgehoben –, andererseits sollen alle gemeinsam ›aufstehen‹, Russin oder Russe sein, auf Gott und die Kirche hören, die Familie und den Zusammenhalt anstreben, Kinder zeugen und fördern, in den Krieg ziehen und für die Mutter- Heimat sterben. Künftig jedoch, wie die gerade stattfindende Indoktrination von Schulkindern zeigt, könnte sich Shamans Pop-Propaganda und mit ihr die „richtige“ nationale Körperlichkeit weiter homogenisieren.

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