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Von individuellen Plagiatsaffären zu global organisierten Wissenschaftsbetrugsnetzwerken - Strukturelle Ursachen, aktuelle Befunde und notwendige Gegenmaßnahmen zur Sicherung wissenschaftlicher Integr

Aktualisiert: 17. Nov.

Quelle: Freie Universität Berlin
Quelle: Freie Universität Berlin

Plagiatsaffären in der Wissenschaft sind keineswegs ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit, doch der Fall des damaligen Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg im Jahr 2011 markierte in Deutschland den wohl sichtbarsten Moment, in dem wissenschaftliches Fehlverhalten in den Fokus der öffentlichen und politischen Debatte rückte. Das aktuellste Beispiel ist der Eklat um die gescheiterte Wahl von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht. Auch ihr wurden (fälschlicherweise) Plagiate in ihrer Dissertation vorgeworfen.


Akademische Standards und der institutionalisierte Publikationsdruck


Jedem Erstsemesterstudierenden wird i. d. R. frühestens in einem „Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten“-Seminar die Regeln und Formalia für das Verfassen

akademischer Schriften vermittelt und häufig wird bereits verlangt, einer Hausarbeit eine obligatorische Eigenständigkeitserklärung voranzustellen. Spätestens bei der Arbeit an einer Bachelor-Thesis sollte man diese aber verinnerlicht haben und nach diesen agieren.

Bekannt ist aber genauso, dass der Wissenschaftsbetrieb so umkämpft, wie kaum ein anderes berufliches Umfeld und die Liste der Publikationen, sowie der H-Index, ausschlaggebend für die Berufung auf eine der begehrten, aber seltenen, Professuren ist. Das vielzitierte „Publish or Perish“ gilt noch immer (Fanelli 2010: 920ff). Während dieser Druck bei vielen NachwuchswissenschaftlerInnen zu einer Intensivierung legitimer Forschungs- und Schreibprozesse führt, begünstigt er zugleich die Entstehung von Grauzonen, in denen wissenschaftsethische Normen sukzessive relativiert werden. In diesem Kontext entstehen Anreize, auf inoffizielle, kommerziell organisierte Unterstützungsstrukturen zurückzugreifen, die zunächst als „Effizienzsteigerung“ oder „Formathilfe“ erscheinen mögen, tatsächlich jedoch den Übergang zu klaren Formen wissenschaftlichen Fehlverhaltens markieren. So mündet der institutionell erzeugte Publikationszwang nicht selten in die bewusste Inanspruchnahme sogenannter Plagiatsnetzwerke oder „Paper Mills“, die gegen Entgelt Texte, AutorInnenschaften oder Zitate anbieten und dadurch den wissenschaftlichen Kommunikationsprozess systematisch verfälschen (vgl. Severin & Low 2020).


Neue Erkenntnisse zur systemischen Bedrohung der Integrität akademischer Kommunikation


Die oben beispielhaft genannten Plagiate in Dissertationen können vermutlich noch als Taten des jeweiligen einzelnen DoktorandInnen angesehen werden. Nun haben aber Luís A. N. Amaral, Reese Richardson und weitere KollegInnen der Northwestern University die Untersuchung „The entities enabling scientific fraud at scale are large, resilient and growing rapidly“ im Journal Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlicht. Der Artikel stellt eine umfassende Analyse organisierter wissenschaftlicher Täuschung dar und verschiebt den Blickwinkel der Diskussion von vereinzelten Fehlverhalten individueller Forschender hin zu transnational agierenden, komplex vernetzten Strukturen. Die AutorInnen argumentieren, dass diese Netzwerke eine systematische, koordinierte und zunehmend skalierte Gefährdung für die Integrität wissenschaftlicher Kommunikation darstellen.

Das Forschungsteam kombinierte großskalige quantitative Datenanalysen mit qualitativen Fallstudien. Datengrundlagen bildeten aggregierte Literaturdatenbanken wie Web of Science, Elsevier Scopus, PubMed/MEDLINE und OpenAlex (inklusive Daten aus Microsoft Academic Graph, Crossref, ORCID, Unpaywall). Ergänzend wurden Datensätze aus Retraction Watch, Kommentaren aus PubPeer, Metadaten von Zeitschriftenartikeln (z. B. EditorInnen-Namen, Einreichungs- und Annahmedaten) sowie Listen de-indexierter Journale herangezogen. Diese triangulierte Herangehensweise erlaubte die Identifikation von Mustern betrügerischer Aktivitäten über unterschiedliche Disziplinen und Publikationsorgane hinweg.

Die Analysen offenbaren ein wachsendes Ökosystem betrügerischer Akteure, bestehend aus:


· „Paper Mills“: Organisationen, die standardisierte, oftmals qualitativ minderwertige oder gänzlich gefälschte Manuskripte (inklusive manipulierten Bildmaterials, erfundener Daten und Plagiate) in großer Zahl produzieren und verkaufen.


· Brokern: Vermittlerfiguren, die den Kontakt zwischen Produzenten gefälschter Inhalte, Käufern von AutorInnenschaften und kompromittierten Publikationskanälen herstellen.


· Infiltrierten und gekaperten Zeitschriften: Journale, deren redaktionelle Integrität unterwandert wurde oder die, nach Einstellung des ursprünglichen Betriebs, von Dritten übernommen werden, um im Namen einer ehemals seriösen Publikationsplattform fachfremde oder gefälschte Inhalte zu veröffentlichen.


Der Artikel dokumentiert, dass diese Strukturen nicht nur den Verkauf von Artikeln, sondern auch den gezielten Handel mit AutorInnenschaftspositionen (mit Preisstaffelung nach Autorenrang) und Zitaten ermöglichen. Außerdem wird durch Schein-Peer-Review-Prozesse zusätzlich die Publikation solcher Arbeiten in etablierten oder zumindest formal indizierten Zeitschriften abgesichert.


Aus ihren Datenanalysen leiten Amaral und seine KollegInnen vier zentrale Taktiken ab:

  1. Kollusive Publikationsabsprachen zwischen Forschergruppen über verschiedene Journale hinweg;

  2. Nutzung kompromittierter Journale für die massenhafte Veröffentlichung gefälschter Arbeiten;

  3. Konzentration der Aktivitäten auf besonders verwundbare, oft kleinere Subdisziplinen;

  4. Umgehung von Qualitätskontrollmechanismen, u. a. durch Ausnutzung von De-Indexierungen oder die Reaktivierung inaktiver Journalmarken.

Beispielhaft schildert die Studie den Fall der Fachzeitschrift HIV Nursing, die nach Einstellung ihrer Publikation von Dritten übernommen und inhaltlich zweckentfremdet wurde, während sie weiterhin in bibliografischen Datenbanken verzeichnet war.

Die Ergebnisse legen nahe, dass der Umfang betrügerischer Publikationen inzwischen mit einer höheren Wachstumsrate zunimmt als der legitimer wissenschaftlicher Arbeiten. Dies birgt die Gefahr einer graduellen, aber letztlich irreversiblen Erosion des Vertrauens in den wissenschaftlichen Publikationsprozess. Die AutorInnen der Studie betonen, dass dieser Trend durch bestehende Anreizstrukturen, etwa publikationsgetriebene Karriere- und Förderlogiken, weiter befeuert wird.


Lösungsansätze


Karl-Theodor zu Guttenberg erklärte die „unkorrekt zitierten Passagen“ in seiner Doktorarbeit mit den multiplen Belastungen durch politische Tätigkeit, Vaterschaft und die eigentliche Arbeit an der Dissertationsschrift, denen er sich in seiner Promotionsphase ausgesetzt sah und tatsächlich ist auch Merkels Verteidigung des ehemaligen Ministers teilweise nachvollziehbar. Die Erklärung, Guttenberg wäre nicht als wissenschaftlicher Assistent berufen worden, greift aber zu kurz. Ein aberkannter akademischer Grad oder nachgewiesene Plagiate beschädigen aber nicht nur die betroffene Person. Auch der/die betreuende Doktorvater oder -mutter und die Institutionen, an der eine Dissertation eingereicht wird, geraten in Misskredit und werden verdächtigt, nachlässig in der Prüfung von eigenständigen, wissenschaftlichen Arbeiten zu sein. Auch das Peer-Review-Verfahren, in welchem ein eingereichter wissenschaftlicher Beitrag von unabhängigen FachexpertInnen anonym geprüft wird, um dessen methodische Qualität, inhaltliche Relevanz und formale Angemessenheit zu bewerten, bevor die entsprechenden HerausgeberInnen über Annahme, Überarbeitung oder Ablehnung entscheiden, ist nun bedroht, nicht mehr weiterhin als Garant für korrektes wissenschaftliches Publizieren gelten zu können.

Auch Amaral et al. sehen darin eine enorme Bedrohung für die Integrität der Wissenschaft selbst und fordern zur Eindämmung der beschriebenen Entwicklungen ein mehrstufiges Interventionskonzept:


·   Stärkung redaktioneller Prüfverfahren und Peer-Review-Integrität,

·  Weiterentwicklung algorithmischer und forensischer Detektionsmethoden   zur Identifikation gefälschter Inhalte,

· Systemische Reform des wissenschaftlichen Anreizsystems, um Publikationsquantität als primäres Leistungskriterium zu relativieren,

·    Frühzeitige Adressierung KI-bezogener Risiken, insbesondere hinsichtlich der Generierung synthetischer Inhalte und der Gefahr selbstverstärkender Rückkopplungen durch KI-Trainingsdaten, die mit Fälschungen kontaminiert sind.


Die AutorInnen mahnen, dass ohne rasches und koordiniertes Handeln eine „Kontamination“ der wissenschaftlichen Literatur droht, die sowohl die Produktion verlässlichen Wissens als auch die Ausbildung künftiger Forschender fundamental beeinträchtigen könnte. Um Artikel, die aus „Paper Mills“ stammen, zu identifizieren, initiierte die Forschungsgruppe um Amaral bspw. ein paralleles Projekt, das automatisiert veröffentlichte Beiträge aus den Bereichen Materialwissenschaften und Ingenieurwesen analysiert. Dabei suchte das Team gezielt nach AutorInnen, die in ihren Arbeiten die von ihnen verwendeten Messinstrumente fehlerhaft oder falsch angegeben hatten. Ein Manuskript mit den daraus resultierenden Befunden wurde in der Fachzeitschrift PLOS ONE publiziert.


Zusammenfassend verdeutlichen sowohl die historischen Einzelfälle prominenter Plagiatsaffären als auch die jüngsten empirischen Befunde zu organisierten Betrugsnetzwerken, dass wissenschaftliches Fehlverhalten längst nicht mehr allein auf individuelle moralische Verfehlungen zurückzuführen ist, sondern in einem strukturell begünstigenden, global vernetzten Umfeld gedeiht. Der zunehmende Publikationsdruck, die durch Wettbewerb verschärften Anreizsysteme und die wachsende Professionalisierung betrügerischer Akteure schaffen ein Klima, in dem die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Publikationsprozesse systematisch unterminiert wird. Wird dieser Entwicklung nicht entschieden entgegengetreten, droht nicht nur die nachhaltige Beschädigung einzelner akademischer Karrieren, sondern eine tiefgreifende Erosion des Vertrauens in die Wissenschaft als gesellschaftliche Institution. Die von Amaral et al. geforderten strukturellen, technischen und kulturellen Reformen sind daher nicht nur als Reaktion auf bereits manifest gewordene Missstände zu verstehen, sondern als zwingende Voraussetzung, um die Integrität und Funktionalität des wissenschaftlichen Erkenntnissystems langfristig zu sichern.

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