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Altersregulierung und Jugendmedienschutz in digitalen Medien: Herausforderungen zwischen Schutz und Teilhabe

Aktualisiert: 17. Nov.


Screenshot artlist.io
Screenshot artlist.io

Es zählt vermutlich noch immer zu den unausgesprochenen Initiationsriten unter, zumeist männlichen, Jugendlichen: gemeinsam einen Kinofilm zu sehen, dessen Altersfreigabe man selbst noch nicht erfüllt.


Institutionalisierter Jugendmedienschutz zwischen Prävention und kultureller Normsetzung


Seit 1949 prüft die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) jeden in Deutschland veröffentlichten Kino- oder Videofilm und teilt diesen angesichts des Inhalts eine der folgenden Freigaben zu: ohne Altersbeschränkung, frei ab 6, 12, 16 oder 18 Jahren. Produktionen, die in den Augen des Prüfgremiums selbst für eine FSK 18-Freigabe zu verstörende Inhalte aufweisen, dürfen nicht veröffentlicht werden und werden i. d. R. nochmals von Produktionsseite gekürzt.

Für Video- und Computerspiele übernimmt diese Aufgabe seit 1994 die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), deren Altersfreigaben heute zu den strengsten weltweit gehören. Ausgangspunkt für deren Gründung war bspw. die Kontroverse um Videospiele wie Doom und Mortal Kombat, die 1993 sogar in einem US-Senats-Hearing thematisiert wurde.

Beide Institutionen fungieren also als anerkannte Selbstkontrolleinrichtungen im Sinne des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) und sind damit integraler Bestandteil eines Systems, das auf der Balance von staatlicher Normsetzung, industrieller Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Schutzfunktion beruht (vgl. von Gross, 2015; Holtz-Bacha, 2019).

Die FSK ist primär für die klassische Film- und Kinoauswertung sowie für DVD- und Blu-Ray-Veröffentlichungen zuständig, während die USK die Altersklassifizierung digital-interaktiver Medien wie Computerspielen und Online-Gaming-Plattformen vornimmt. In beiden Fällen wird das Medium nach festgelegten Prüfkriterien hinsichtlich seiner möglichen entwicklungsbeeinträchtigenden oder -gefährdenden Wirkung bewertet. Die oben erwähnten, resultierenden Altersfreigaben sind rechtlich bindend und entfalten unmittelbare Relevanz für den Zugang Minderjähriger zu entsprechenden Inhalten im Handel und in der öffentlichen Aufführung (vgl. Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien [BPjM], 2020).

Die Bedeutung von FSK und USK erschöpft sich jedoch nicht in der Funktion eines präventiven Schutzmechanismus. Vielmehr wird in der medienwissenschaftlichen Diskussion hervorgehoben, dass beide Einrichtungen zugleich eine kulturell-normative Bewertungsinstanz darstellen, da sie Maßstäbe dafür setzen, welche Inhalte in welchen Entwicklungsphasen als gesellschaftlich akzeptabel gelten (vgl. Theunert, 2013). Hier zeigt sich die doppelte Funktionalität: Einerseits wirken die Alterskennzeichen als instrumentelle Schutzmaßnahme, andererseits als Symbol für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zwischen Medienindustrie, Öffentlichkeit und Regulierungsträgern.

Diesbezüglich lässt sich festhalten, dass beide Institutionen nicht nur als administrative Organe des Jugendmedienschutzes, sondern als hybride Akteure verstanden werden müssen, die im Spannungsfeld von Medienethik, Kulturpolitik und ökonomischer Interessenlage agieren (vgl. Mikos, 2021). Sie tragen damit wesentlich dazu bei, die Legitimität des Jugendmedienschutzes zu sichern, ohne zugleich in einen direkten staatlichen Zensurmechanismus zu verfallen, und sind in dieser Hinsicht Ausdruck einer reflexiven Mediatisierung moderner Gesellschaften.


Schutz, Regulierung und kontroverse Diskurse


Längst sind aber nicht nur Kinofilme und Videospiele die primäre Beschäftigung unter Jugendlichen. Vielmehr nutzen diese mittlerweile diverse Social Media – Kanäle, streamen Videos oder nutzen TikTok. Grund genug also, auch eine strikte Altersgrenze für Social Media – Nutzung einzuführen, findet Dr. Hendrik Streeck (CDU), Suchtbeauftragter der Bundesregierung. Dieser erklärte am 25.08.25 in der Rheinischen Post: „Wenn man sich anschaut, dass 42 Prozent der Zehn- bis Elfjährigen einen TikTok-Account haben, läuft da etwas aus dem Ruder". Juristisch hat Streeck recht, denn die Plattform ist erst ab 16 Jahren ohne Zustimmung der Eltern frei nutzbar. Gleichzeitig sei diese „voll von gefährlichen und bedenklichen Inhalten für Kinder“, so der CDU-Politiker. Natürlich nimmt der Suchtbeauftragte auch die anderen Plattformen wie YouTube oder Snapchat ins Visier, als er ausführt: „Kinder und Jugendliche, die in hohem Maße nicht altersgerechte Inhalte konsumieren, sind anfälliger für riskantes Suchtverhalten und problematischen Drogenkonsum“. Seinen Angaben zufolge verbringen Minderjährige im Schnitt vier Stunden täglich in Onlinenetzwerken, hinzu kommen zwei Stunden Computerspiele und zwei Stunden Streamingdienste. Altersvorgaben könnten das Verhalten aus seiner Sicht eindämmen.

Joachim Türk, Vizepräsident des Kinderschutzbundes e.V. kontert die Forderung Streecks und erklärt gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): „Auch Kinder haben ein Recht auf digitale Teilhabe.“ Gleichzeitig mahnt aber auch Türk an, dass die Plattformen „sichere und altersentsprechende Angebote entwickeln, etwa mit kindgerechten Layouts und Hilfsangeboten entwickeln müssten“. Pauschale Verbote, wie Streeck sie vorschlage, würden Jugendliche dagegen unvorbereitet in die Erwachsenenwelt entlassen.

Auch die Vorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SVD), Michaela Engelmeier, sagte dem RND, zwar sei die Debatte wichtig, restriktive Lösungen wären aber falsch. "Die Herausforderungen der Digitalisierung lassen sich nicht zurückdrehen. Ein Mindestalter mag sinnvoll klingen, ist aber kein respektvoller Umgang mit Jugendlichen."


Prinzipiell möchte man beiden Seiten in Maßen zustimmen, da sie jeweils valide Punkte für ihre These ins Feld führen. Angesichts der Verlockung, die bereits audiovisuelle Angebote wie Kinofilme oder Videospiele auf Jugendliche haben, die sie lt. FSK-Freigabe nicht konsumieren dürften, erscheint Streecks Forderung hoffnungslos naiv.

Die Nutzung von Social-Media-Plattformen durch Jugendliche stellt ein komplexes Spannungsfeld dar, das insbesondere durch die Problematik der Altersfreigabe geprägt ist. Anders als bei klassischen Medienformaten wie Film oder Computerspielen, welche einer verbindlichen Alterskennzeichnung unterliegen, existiert für soziale Netzwerke kein vergleichbares, rechtlich anerkanntes System präventiver Altersklassifizierung. Zwar geben Anbieter häufig ein Mindestnutzungsalter von 13 Jahren an, das sich am US-amerikanischen Children’s Online Privacy Protection Act (COPPA) orientiert, diese Vorgabe ist jedoch primär datenschutzrechtlich begründet und nicht entwicklungspsychologisch fundiert. Zudem lässt sie sich durch einfache Falschangaben beim Registrierungsprozess problemlos umgehen, sodass sie faktisch kaum Schutzwirkung entfaltet (vgl. Feierabend & Rathgeb, 2021).


Prävention, Teilhabe und Förderung kritischer Medienkompetenz


Aus entwicklungspsychologischer Perspektive ist gerade die Lebensphase der Jugend durch Prozesse der Identitätsbildung, des sozialen Vergleichs und der Suche nach Anerkennung geprägt. Die intensive Nutzung von Social Media kann hier zu spezifischen Risikopotenzialen führen, etwa zu erhöhter Anfälligkeit für Cybermobbing, internalisierte Schönheitsideale oder gesteigerten Druck durch soziale Vergleichsdynamiken (vgl. Nesi & Prinstein, 2015). Die Belastungen, die aus diesen Prozessen erwachsen, zeigen die Notwendigkeit eines adäquaten Schutzrahmens auf.

Eine besondere Gefahr stellt sich in diesem Kontext einmal mehr durch die Verbreitung von Desinformationen auf Social-Media-Kanälen dar, die speziell durch Kinder und Jugendliche rezipiert werden. Plattformen wie TikTok, Instagram oder YouTube fungieren für diese Peer Group als primäre Informationsquellen, wobei die Grenzen zwischen Unterhaltung, Werbung und Nachrichteninhalten zunehmend verschwimmen (vgl. Levy, 2021). Aufgrund der noch nicht vollständig ausgebildeten kognitiven und medienkritischen Fähigkeiten sind junge NutzerInnen besonders anfällig für Fehlinformationen, manipulative Inhalte oder verschwörungstheoretische Narrative (vgl. Livingstone, 2019). Studien zeigen, dass Desinformationen nicht nur das Vertrauen in etablierte Institutionen und Medien schwächen können, sondern auch unmittelbare Auswirkungen auf das gesellschaftliche Verhalten haben – etwa in Bezug auf politische Einstellungen, Gesundheitsentscheidungen oder interpersonale Konflikte (vgl. Guess et al., 2020). Angesichts dieser Befunde kommt der Förderung von Medienkompetenz und kritischem Denken im schulischen wie außerschulischen Kontext eine zentrale Bedeutung zu, um Kinder und Jugendliche zu einem reflektierten Umgang mit digitalen Informationen zu befähigen (vgl. Baacke, 1996; Tulodziecki, 2010).


Zur Erklärung der besonderen Wirkung von Desinformationen auf Kinder und Jugendliche lassen sich verschiedene Kommunikations- und Lerntheorien heranziehen. Nach der Uses-and-Gratifications-Theorie nutzen junge RezipienInnen soziale Medien nicht primär zur Informationsgewinnung, sondern zur Unterhaltung, Identitätsbildung und sozialen Interaktion. Dadurch werden Inhalte oftmals unkritisch übernommen, wenn sie diesen Bedürfnissen entsprechen (vgl. Katz et al., 1973). Ergänzend verweist die Social-Learning-Theory von Bandura darauf, dass Verhaltensweisen und Einstellungen durch Beobachtung und Nachahmung erlernt werden; InfluencerInnen können so als Modelle fungieren, die Desinformationen unbewusst verstärken (vgl. Bandura, 1977). Auch das Elaboration-Likelihood-Modell verdeutlicht, dass Kinder und Jugendliche Informationen häufig über die periphere Route verarbeiten – d. h. sie orientieren sich an oberflächlichen Reizen wie Popularität oder Emotionalität, anstatt Argumente systematisch zu prüfen (vgl. Petty & Cacioppo, 1986). In diesem Zusammenspiel entsteht eine erhöhte Anfälligkeit für manipulatives und falsches Wissen, das in der Entwicklungsphase von Identität und Weltverständnis besonders wirkmächtig sein kann.

Auf der regulativen Ebene offenbart sich eine zentrale Lücke im bestehenden System des Jugendmedienschutzes. Während FSK und USK als institutionalisierte Selbstkontrolleinrichtungen mit rechtlich bindender Wirkung agieren, verbleiben Social-Media-Plattformen weitgehend in einem Zustand der Selbstregulierung. Altersvorgaben und inhaltliche Schutzmaßnahmen liegen hier in der Verantwortung der Anbieter, die diese über Community-Standards und algorithmische Moderation umsetzen. Dadurch fehlt es an Transparenz, Verbindlichkeit und einer unabhängigen Prüfung, sodass die Schutzmechanismen gegenüber klassischen Altersfreigaben deutlich geschwächt sind (vgl. Holtz-Bacha, 2019).


Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass soziale Netzwerke für Jugendliche eine zentrale Rolle in Prozessen der Sozialisation, Kommunikation und kulturellen Teilhabe spielen. Ein striktes Altersverbot würde diese Teilhabe massiv einschränken und Jugendliche von relevanten Räumen öffentlicher Kommunikation ausschließen. Das Spannungsverhältnis zwischen Schutzbedürfnis und Teilhabeorientierung verweist somit auf eine grundlegende Ambivalenz moderner Medienerziehung (vgl. Süss, Lampert & Wijnen, 2013).

Michaela Engelmeier plädiert für eine umfassende verbindliche  Medienbildung an den Schulen (worüber wir in Ausgabe 6 ebenfalls berichtet haben), sowie die Etablierung von Vorbildern eines gesunden Konsums. Außerdem sollen die Jugendlichen aktiv in die Erarbeitung von Lösungen einbezogen werden.

Die zunehmende Relevanz sozialer Medien im Alltag von Kindern und Jugendlichen macht eine systematische Medienbildung an Schulen zu einer pädagogischen Notwendigkeit. Da Plattformen wie TikTok, Instagram oder Snapchat nicht nur Kommunikationsräume, sondern auch Arenen für Identitätsarbeit, soziale Vergleichsprozesse und kulturelle Teilhabe darstellen, sind Schülerinnen und Schüler ohne entsprechende Kompetenzen erheblichen Risiken wie Cybermobbing, Desinformation oder problematischen Selbstinszenierungszwängen ausgesetzt (vgl. Süss, Lampert & Wijnen, 2013; Nesi & Prinstein, 2015). Eine schulische Medienbildung, die neben technischen Fertigkeiten auch kritisch-reflexive Kompetenzen im Umgang mit Social Media vermittelt, trägt daher maßgeblich zur Stärkung von Medienmündigkeit bei und erfüllt eine Schlüsselrolle im präventiven Jugendmedienschutz.

Vor diesem Hintergrund erhält die schulische Medienbildung auch eine bildungspolitische Dimension: Die KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ (2016) formuliert verbindliche Kompetenzbereiche, die von „Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren“ über „Kommunizieren und Kooperieren“ bis hin zu „Analysieren und Reflektieren“ reichen. Gerade im Kontext sozialer Medien wird damit deutlich, dass Medienbildung nicht allein technische Bedienkompetenz umfasst, sondern auch die Fähigkeit, digitale Öffentlichkeiten kritisch einzuordnen, Inhalte zu bewerten und verantwortungsbewusst zu handeln. Schulen werden so als zentrale Orte einer ganzheitlichen Medienerziehung ausgewiesen, die gleichermaßen auf Teilhabe, Schutz und Persönlichkeitsentwicklung abzielt und damit einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung des Jugendmedienschutzes im digitalen Zeitalter leistet (vgl. KMK, 2016).


Zusammenfassend zeigt sich, dass die Problematik nicht allein im Fehlen formaler Altersgrenzen liegt, sondern in der Diskrepanz zwischen deklarierten Nutzungsvorgaben und der tatsächlichen Nutzungspraxis. Während institutionalisierte Altersfreigaben in klassischen Medien einen rechtlich verbindlichen Orientierungsrahmen bieten, bleibt dieser Schutz im Bereich sozialer Medien weitgehend deklaratorisch und damit unzureichend. Die Diskussion um die Social-Media-Nutzung Jugendlicher verdeutlicht exemplarisch die Grenzen traditioneller Mechanismen des Jugendmedienschutzes angesichts der Dynamiken digitaler Plattformökonomie (vgl. Mikos, 2021). Es mag vielleicht verruchter klingen, wenn die “Boomer-Generation” davon erzählt, wie sie Texas Chainsaw Massacre im Alter von 14 Jahren gesehen hat, als wenn deren Kinder heute TikTok-Challenges kommentieren, der Versuch einer Regulierung ist aber vergleichbar. Der viel leichtere Zugang zu bedenkenswerten Social-Media-Inhalten und deren Masse stellen aber, gemeinsam mit den noch nicht vollständig herausgebildeten Fähigkeiten zur Einordnung des Contents unter Jugendlichen, dabei das größte Bedrohungspotenzial dar. 

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